Transkription: Catalyst von Rainer Böhm
Als versierter Jazzpianist ist Rainer Böhm vor allem durch seine Zusammenarbeit mit dem Kontrabassisten Dieter Ilg bekannt, zuletzt bei dem Jazz-Klassik Projekt B-A-C-H. Bereits 2011 veröffentlichte Rainer Böhm bei ACT das Album Berlin − New York zusammen mit dem Saxofonisten Ben Kraef, begleitet von John Pattitucci und Marcus Gilmore.
Die Reihe Piano Works des Labels ACT-Music ist ein Forum für herausragende Jazz-Pianisten und somit eine Fundgrube für Liebhaber ambitionierter Klaviermusik − für jeden Pianisten ist es ein musikalischer Ritterschlag und eine Herausforderung zugleich, sich in dieser Reihe präsentieren zu dürfen. In KEYBOARDS 02/03.2018 haben wir aus dieser Reihe den Titel December Sun von Chris Beier vorgestellt.
Rainer Böhm hat auf mehr als 50 CD-Einspielungen mitgewirkt − mit Hydor tritt er zum ersten Mal als Klavier-Solokünstler in Erscheinung. Ein paar Anmerkungen zum Werdegang in Kurzform: 1977 geboren in Ravensburg, Studium Jazzklavier und Jazzarrangement in Mannheim und Köln, zwei Jahre Mitglied im Bundesjazzorchester, Master Studium in New York, Professor an den Musikhochschulen in Nürnberg und Mannheim, Wohnort Köln. Teilnahme an verschiedenen Wettbewerben: Bereits mit 18 Jahren gewann er mit seinem Trio den ersten Preis beim Jazzwettbewerb in Sigmaringen, 2000 und 2001 erreichte er jeweils den zweiten Preis beim »International Jazz Solo Piano Festival« in Montreux und wurde 2010 den Jazzpreis Baden-Württemberg ausgezeichnet.
Als Titel seines Solo-Albums hat Rainer den altgriechischen Begriff »Hydor« ausgewählt, der übersetzt Wasser bedeutet. Damit lassen sich allerlei Assoziationen verknüpfen: Das reicht von fließenden Strukturen bis hin zu brausenden Solos, die sich aus verschiedenen Strömungen speisen und starre Genregrenzen überwinden, bis hin zu melodischem Einfallsreichtum, der dynamische Klangverläufe generiert.
Bei unserem Transkriptionstitel Catalyst fällt die subtile Anschlagskultur auf, mit der Rainer selbst leise Melodie-Passagen herausarbeitet und Begleit- und Fülltöne fast schon hinhaucht − bei ihm klingen auch tiefe Lagen noch transparent.
Catalyst ist ein Jazz-Waltz im triolisch groovenden 3/4-Takt. Getreu des CD-Titels Hydor wird der Jazz-Waltz-Groove allerdings ein wenig »verflüssigt«: Das geschieht mit einer kleinen rhythmischen Verschiebung, die man in der Melodie in Takt 10 gut nachvollziehen kann: Statt das »as« im ternären »lang-kurz-Rhythmus« auf das dritte Triolen-Achtel zu platzieren, klingt dieses auf dem zweiten Triolen-Achtel − vgl. die Stichnoten über der Notenzeile. Um das Notenbild zu vereinfachen, habe ich dieses wiederkehrende Rhythmuspattern in einer Vierteltriole notiert.
Im Zusammenspiel mit der linken Hand ergibt sich ein ineinandergreifender Rhythmus, der sich am Beispiel der zweiten Zählzeit so darstellt: Auf der »2« spielt die linke Hand das »g«, dann folgt das »as1 « der rechten Hand, bevor die linke Hand das »c1 « als dritte Achtel-Triole ergänzt. Auch an anderen Stellen wird der Rhythmus zwischen beiden Händen aufgeteilt; wie das im Einzelnen geschieht, kann nicht immer zweifelsfrei geklärt werden. Die hier notierten Hinweise sind nicht verbindlich, und auch Rainer wird diese Figuren live sicherlich variieren.
Die Harmonik und die Voicings werden von Rainer außerordentlich flexibel und variabel gehandhabt. Einen kleinen Vorgeschmack liefert das Intro: Es beginnt mit einem speziellen A-Moll-Voicing (9-3-1), die Sekund/Sexten-Voicings setzen sich riffmäßig fort, und so entzieht es sich der harmonischen Zuordnung. Im Verlaufe des Stückes wechseln sich die Lagen ab: In Takt 23-25 spielen beide Hände in tiefer Lage, und gleich darauf geht es zu spannungsreichen Sekund-Reibungen, bevor eine fette Dezime in Takt 29 ein sattes Bassfundament legt. Es gibt viel zu entdecken, es ist faszinierend, wie sich die Voicings abwechseln − ein Biologe würde von Artenvielfalt sprechen.
Zur Harmonik: Wer hier konventionell nach II-V-I Verbindungen sucht, wird nicht fündig werden. Es tauchen z. B. harmonische Umdeutungen auf (E7 /G# wird als Ab j 7 weitergeführt), Verschiebungen von Major-Akkorden (Takt 26 bis 30) bestimmen ebenso die Szenerie wie die große None als Option z. B. in Takt 33, 35 und 36. Die Harmonien ändern sich durch die Tonarten und erzeugen so die unterschiedlichsten Farben.
Rainer beschreibt seine Vorgehensweise wie folgt: »Das Stück ist am Klavier entstanden, und ich bin komplett nach Gehör vorgegangen. Ich habe also beim Schreiben weder funktionsharmonisch noch intervallisch etc. geplant. Solche Elemente sind in der Komposition zwar enthalten, aber haben sich eher aus dem Moment heraus ergeben. Das einzige ›planende‹ Element: Ich versuche beim Schreiben meistens, an einer Idee dran zu bleiben und diese weiterzuentwickeln. So kommt auch die Melodie zustande, die im Prinzip aus einem Motiv besteht, das sich durch das Stück schlängelt.«
Zur Form: Catalyst besteht aus einem 32 Takte langen Thema, das ich mit den Übungsmarken A und B aufgeteilt habe. Auf das 4×32 Takte umfassende Solo über die Changes mussten wir aus Platzgründen verzichten. Für die Umsetzung des Songs gibt es aber die Möglichkeit, ein eigenes Solo auszuprobieren oder stattdessen wie notiert das erste Thema zu wiederholen und vom Segno bis zum Kopf und weiter bei Kopf ins Outro zu springen. Das Outro klingt ein wenig outside, ab Takt 84 koppelt sich die Melodie auch rhythmisch vom Timing der linken Hand ab, siehe Hinweis »Melody freely«. Die Melodie ist hier näherungsweise notiert worden.