Von Bossa bis Nujazz

Der Bossa Nova und Brazilian Soul

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(Bild: ARCHIV, YOUTUBE)

Als musikkultureller Schmelztiegel aus afrikanischen, portugiesischen und indigenen Wurzeln hat Brasilien der Welt große Musikstile geschenkt, die bekanntesten sind Samba und Bossa Nova. In gewisser Weise ist Bossa Nova auch eine Reaktion auf Samba, eine Art Anti-Samba. Die war nämlich immer lauter geworden, der Gesang immer operettenhafter, gekünstelt und unverständlich. Der fast verstörend leise, nasale Gesang eines João Gilberto und sein unaufdringliches und rhythmisch doch prägnantes Gitarrenspiel waren stilprägend für den Gegenentwurf, eben die „Neue Welle“. Das war cool (und vom Cool Jazz wurden die Protagonisten letztlich auch beeinflusst). Antônio Carlos Jobim schrieb die Welthits, Stan Getz und Charlie Byrd brachten den Bossa Nova dann in die Staaten.

Höhepunkt war die Zusammenarbeit auf dem 1963er Album Getz/Gilberto (natürlich auch hier mit Tom Jobim), auf dem sich auch The Girl From Ipanema wiederfindet. Auch Ella Fitzgerald und Frank Sinatra machten nun in Bossa Nova. Und nachdem das brasilianische Militär 1964 putschte, brachten Massen brasilianischer Exilmusiker noch viel mehr Bossa Nova direkt in die USA. Hier mischte sich der Stil vom Jazz ausgehend vor allem mit den jeweils aktuellen Strömungen der schwarzen Musik. Die coole Zurückhaltung des Bossa Nova führte schon damals zum Image als Lounge-Musik – man denke an Dusty Springfields extrem unterkühlte Interpretation von The Look Of Love (1967).

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Burt Bacharach hatte diesen Titel deutlich an Bossa Nova ausgerichtet und konnte ihn Marketing-technisch perfekt in der ersten James-Bond-Verfilmung Casino Royal platzieren. Und in einem solchen Titel kamen sich schließlich Bossa Nova und Soul wohl auch am nächsten. Diametral liegen ansonsten die Philosophien: extrovertiertes Gefühl im Soul versus kontrollierte, poetische Emotionen in der Bossa Nova. Doch Dusty Springfield, die „White Queen of Soul“, konnte der unterkühlten Bossa Nova trotzdem im wahrsten Wortsinne eine Seele einhauchen. Berührungspunkte zwischen Soul und Bossa Nova bleiben letztlich musikalische Einzelfälle. Nicht nur das wunderbare The Look of Love erlebte eine Renaissance, als die Bossa Nova vor allem im Europa der späten 90er-Jahre noch einmal voll als Lounge- oder leichte Tanzmusik einschlug. Latin-House und Brazil-Dancefloor waren die neuen Genre-Stempel, speziell für die Bossa Nova prägte sich noch Bossa Electrica bzw. Techno Bossa ein.

Clubs wie das Mojo in Hamburg oder das Delicious Doughnuts in Berlin, Labels wie das Münchner Compost Records bereiteten den Boden für diese zweite neue Welle, eine latino-brasilianische Fusion aus Samba, Bossa Nova, aber auch Jazz, Boogie, Soul und Folk. Das Berliner DJ-Kollektiv Jazzanova landete schon 1997 einen Clubhit mit Fedime’s Flight und prägte den Begriff des NuJazz; fast ein Jahrzehnt später erhielten sie das Privileg, für ihre Remixe und Compilationen auf die Archive des legendären Blue-Note-Labels zurückgreifen zu dürfen.
Mit dem speziellen Fokus auf Brasilien förderte die schier endlose Compilation-Reihe Brazilectro ab den 2000er-Jahren wahre Schätze zutage: Originaltitel vom Zuckerhut, aber eben auch remixte, mit einer elektronischen Frischzellenkur aufgepäppelte Tracks – sofern man nicht gleich komplett neu komponierte und produzierte, aber eben im bekannten Idiom.

Eine der bis heute bestehenden Bands dieser Zeit ist die niederländische Formation Zuco 103 mit der brasilianischen Sängerin Lilian Vieira. (Zuco 103, gegründet 1999, waren vielleicht auch die ersten, die ihren Stil als „Brazilectro“ beschrieben). Aus Deutschland waren damals das Rainer Trüby Trio oder die Jungs von Mo’ Horizons (auch mit diversen Nebenprojekten) vertreten, wie auch Sommer-House-DJ Ian Pooley. Aber auch Urgesteine der Bossa Nova mischten weiter mit; oder deren Nachfahren, wie die Sängerin Bebel Gilberto – ja, das ist die Tochter von João. Brazil was the Sound to chill! Nicht zuletzt einem Remix von Jazzanova ist es dann auch zu verdanken, dass ein Urgestein des brasilianischen Fusion wiederentdeckt wurde: Azymuth.

Brasilianische Im- und Exportschlager 

Einer der bekanntesten Exportschlager der Música Popular Brasileira (MPB) war in den 80er-Jahren das Trio Azymuth um den Keyboarder Jose Roberto Bertrami. Als JazzSamba-Funk-Gruppe sorgten sie mit dem Instrumental Hit Jazz Carnival 1979 für Furore und öffneten für viele Hip-Hopper, Houser und Funker den Zugang zur MPB – deswegen gehört Azymuth auch zu den Bands, die später oft remixt wurden. Ein musikalischer Sonderfall ist der vielleicht einzige brasilianische Soul-Man, Tim Maia: In seiner Heimat seit den 70er-Jahren ein Superstar, war er dafür verantwortlich, dass Brasilien kein weißer Fleck auf der Soul-Weltkarte ist.

Die politischen und musikalischen Zustände in seiner alten Heimat, dem Brasilien der späten 1960er-Jahre, waren ihm nach turbulenten Lehrjahren in den USA fremd geworden. Was er kannte und liebte, waren Barry White, Isaac Hayes oder James Brown. Tim wandte sich später einer Sekte zu und kehrte erst zehn Jahre später in die brasilianische Musikszene zurück (Anspieltipp: World Psychedelic Classics Vol. 4: The Existential Soul of Tim Maia – Nobody Can Live Forever; Label: Luaka Bop).

Eumir Deodato (Jazzpianist, Arrangeur, Komponist und Produzent) stammt aus Rio De Janeiro. Dieser bemerkenswerte Musiker absolvierte in Brasilien ein Fernstudium am berühmten Berklee Institut und etablierte sich in Brasilien. 1967 wanderte er in die USA aus, und dort gelang ihm die Tellerwäscher-Karriere vom Jingle-Komponisten zum gefragten Studioproduzenten: Er war maßgeblicher Arrangeur (und vielleicht auch Keyboarder) auf der Roberta-Flack-Scheibe Killing Me Softly, er war der Produzent von Kool and The Gangs Mega-Hit Celebration, und er produzierte auch den isländischen Superstar Björk.

George Dukes Album A Brazilian Love Affair wurde 1980 in Brasilien eingespielt und transportiert auch nach über 30 Jahren noch den ungeheuren Drive der brasilianischen Percussion, für die Airto Moreira, Chico Batera und Roberto Silva verantwortlich zeichneten. Als Sänger kamen Milton Nascimento und die große Dame des brasilianischen Jazz zum Zuge: Flora Purim, die Ehefrau des Percussionisten Airto Moreira. Flora hatte schon 1974 auf Dukes Album Feel den Song Yana Aminah gesungen, und auch Chick Corea war von der Stimme so begeistert, dass Flora die Vocals auf dem legendären Album Light As A Feather sang. Hier schließt sich der Kreis: Daniel Jobim ist der Enkel des legendären Bossa-Nova-Komponisten Antônio Carlos Brasileiro de Almeida Jobim.

Heute trägt der internationale Flughafen der Stadt Rio de Janeiro den Namen von Jobim, und vielleicht wird der eine oder andere WM-Fußballer, der auf dem Flughafen ankommt, ein wenig daran erinnert, dass mit dem Leitspruch „Das Runde muss ins Eckige“ nicht nur ein Fußball gemeint sein könnte: Auch eine CD mit brasilianischer Musik, die in den rechteckigen CD-Player geschoben wird, erfüllt die Kriterien der Fußballgeometrie.

Latin-Styles zum Mitspielen

Brasilien und Kuba (karibisch) sind zwei Epizentren der afroamerikanischen Musik, in deren Schmelztiegel sich europäische und afrikanische Musik zu etwas Neuem verbanden. Obwohl die brasilianische und karibisch-kubanische Musik generell unterschieden werden, hat es auch zwischen diesen Kulturen einen Austausch gegeben: So basiert die kubanische Habanera ebenso auf der „3-3-2 Achtel“-Einteilung wie die brasilianische Maxixe (Vorläufer der Samba) und der Baião, und diese Elemente haben dann wieder Rückwirkung auf den amerikanischen Ragtime und die Mardi Gras in New Orleans gehabt. In beiden Kulturen spielt der Clave-Beat eine große Rolle, wobei sich brasilianische Clave-Beat durch die Synkope auf der „3u“ auszeichnet – siehe Notenbeispiel 1.

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Aber nicht alle brasilianischen Stile werden vom Clave dominiert. Das Piano spielt in der ursprünglichen brasilianischen Musik keine wesentliche Rolle, die hier angegebenen Patterns entstanden aus der Zusammenfassung der Bassfigur und/oder der tiefen Trommel für die linke Hand und der Gitarrenbegleitung für die rechte Hand. In einer Band würde sich der Pianist auf eine ergänzende Rolle zur Gitarre zurückziehen. Und natürlich werden die Patterns nicht so statisch gespielt, der Bass kann durchaus seinen ursprünglichen Grundton-Quinten-Wechsel durch Zwischentöne und synkopierte Linien variieren.

Wichtige Unterscheidungskriterien für die Stile sind das Tempo, die Besetzung (groß, klein), bestimmte Formen und Abläufe sowie die melodische Struktur.

Hinweis: Die Notenbeispiele der Samba sind in Double-Time notiert, die Tempoangaben stehen deswegen in Halben Noten.

Samba: Die Samba taucht zu Beginn des 20. Jahrhunderts vor allem in Rio De Janeiro auf und existiert in verschiedenen Formen: Sambalanço, Samba De Breque, Samba-Enredo, Samba-Canção, Samba-Choro, Samba Exaltação, SambaGafieira, Samba Batucada oder Partido-Alto. Sie ist stark mit dem Karneval verknüpft, der seit den 1920er-Jahren den bis dahin portugisischen Entrudo ablöst. In den Notenbeispielen 7 und 8 stehen zwei Standard-Patterns, wobei der eingeklammerte Akkord und der mit einem gestrichelten Haltebogen angebundene Akkord zwei Alternativen aufzeigen. Notenbeispiel 9 enthält ein vom Choro inspiriertes Offbeat-Festival.

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Die X-Kopf-Noten zeigen die zugrundeliegenden Basstrommeln an. Weltweit bekannt wurde die Samba durch den 1939 von Ary Barroso komponierten Song Aquarela do Brasil, der heutzutage kurz als Brazil bekannt ist – siehe Notenbeispiel 10. Dieser eher lauten Musik setzten Musiker wie João Gilberto und Antônio Jobim einen leiseren und dezenteren Stil entgegen, die Sache (Bossa Nova) entwickelte sich in den 50er-Jahren und war vor allem auf kleine Besetzungen zugeschnitten.

Der Song Chega De Saudade von Jobim 1958 wird manchmal als erster Bossa Nova bezeichnet, und Jobim war als einer der Komponisten der Musik zum Oscar prämierten Film Orfeu Negro von Marcel Camus (1958/59) mitverantwortlich für den Durchbruch der neuen Musik. Cooljazz Musiker wie Charlie Byrd und Stan Getz zog es nach Brasilien, allerdings widersprechen einige brasilianische Musiker der einfachen Formel: „Samba+Cooljazz = Bossa Nova“, sie verweisen darauf, dass ihre Akkord-Voicings bereits seit Längerem komplexer und Jazz-ähnlich gewesen sein sollen.

Die Notenbeispiele 2 bis 5 zeigen sowohl Rhythmus-Varianten als auch unterschiedliche Basskonzepte: Angefangen vom Grundton-Quint-Wechsel, über die Adaption des Bassdrum-Rhythmus bis hin zu chromatischen Durchgängen kann der Bass recht unterschiedlich gestaltet werden.

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Partido Alto: Die Samba für kleinere Formationen entstand in der 30er Jahren. Das zweitaktige Pattern lässt sich auch umkehren und basiert nicht auf dem Clave-Beat – vgl. Notenbeispiel 14.

Choro: Diese Musik ist seit Mitte des 19.Jahrhunderts nachweisbar und gilt als eine der ersten eigenständigen brasilianischen Stile. Im Original wurde er mit Flöte, Cavaquinho (Sopran-Gitarre) sowie von ein bis zwei weiteren Gitarren gespielt, bevor immer mehr Instrumente und Percussion dazukamen. Ein wichtiger Komponist ist Hector Villa-Lobos. Nachdem der Stil ein wenig aus der Mode kam, setzte ab Mitte der 90er ein Revival auch in Europa ein – vgl. Notenbeispiel 12.

Baião: (auch Baiano) stammt aus dem Nordosten Brasiliens und wurde Mitte der 1940er populär – dieser Stil hat eine gewisse Nähe zur Habanera. Ursprünglich bestand er aus Akkordeon, Triangel und Zabumba (lange zylindrische Trommel). Ein bekanntes Stück dieses Stils heißt Delicado – vgl. Notenbeispiel 11.

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Marcha Rancho: Entstand durch Synkopierung der europäischen und US Marching Bands. Sie basiert vor allem auf Moll-Akkorden und ist etwas langsamer als der Frevo, der im Wesentlichen die gleiche Synkopierung aufweist. Der Name Frevo kommt von „ferver“ Kochen; er hat verschiedene Subgenres. Er ist eher regional verbreitet, wurde aber 2012 von der Unesco zum Immateriellen Kulturerbe der Menschheit ernannt. Getanzt wird er in der Hocke, unterbrochen von vielen akrobatischen Sprüngen, die die Herkunft des Tanzes aus dem Capoeira (einer Kampfart) zeigen – vgl. Notenbeispiel 13.

Afoxé: Das ist gleichzeitig der Name des Schüttelinstrumentes Xequerê. Dieser Stil steht in enger Verbindung mit Candomblé, einem afrikanischen Glauben, der sich bis in die Gegenwart gehalten hat, die Lieder werden in der afrikanische Sprache Yoruba gesungen – vgl. Notenbeispiel 15.

 

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