Studiobesuch bei Jean Michel Jarre
Wenn man mit Jean Michel Jarre über die Entwicklung der elektronischen Musik spricht, wird schnell klar: Nach mehr als 35 Jahren nach seinem Album-Meilenstein „Oxygène“ – lebt er noch immer mittendrin. Und viel lieber nennt sich der 63-Jährige in einem Atemzug mit Acts wie Air, Massive Attack oder Moby, als dass ihm offenbar der Begriff „Elektronik-Pionier“ so recht behagen würde.
Die Zentrale des Jarreschen Schaffens liegt ziemlich zentral in Paris, vis-à-vis der Seine. Kaum eingetreten, fühlen wir uns schnell wie in einem Synthesizer-Museum. ARP 2600, EMS Synthi AKS, Mini- oder Memorymoog. Korg PS- 3200 oder Elka Synthex: analoge Schätze, wohin das Auge blickt. Doch eigentlich gar keine gepflegten Museumsstücke, sondern voller Gebrauchsspuren. Unübersichtlich verkabelte Filter-, LFO- und Amp-Module, verschrammte Bedienoberflächen, mit dem Edding nachgezogene Parameterbeschriftungen, beschädigte Holzverkleidungen und jede Menge Phaser! Small Stones in so vielfältiger Ausführung hat man selten gesehen. In jedem der hier aufgebauten KeyboardSetups sind gleich mehrere zu finden. Mittendrin steht auch mal ein Virtuell- Analoger: Auf der zurückhaltend mit Bedienelementen bestückten Oberfläche des Clavia Nord Lead ist ideal viel Platz, um sie mit allerlei Setlist-Anweisungen für Parameter-Modulationen vollzukritzeln – wir selbst hatten das vorher noch nie bemerkt.
KEYBOARDS 02/03 2016 – Modulare Welten
Die Zukunft ist patchbar! In der neuen KEYBOARDS-Ausgabe dreht sich diesmal alles um das Thema Modular Synthesizer. Dazu gibt es mit dem beiliegenden Modular Synthesizer Guide zusätzlich noch ein 16-seitiges Extra mit Infos zu den gängigen Systemen und einer umfassenden Herstellerübersicht.
Neben einem umfassenden Bericht zur neuen Messe Superbooth16, welche dieses Jahr zum ersten Mal ihre Tore in Berlin öffnete, geben wir euch in unserem Modular Synthesizer Special von KEYBOARDS einen tiefen Einblick in die aktuelle Modular-Szene. Unter Anderem stellen wir das junge und innovative Unternehmen Bastl Instruments aus Tschechien vor und werfen einen intensiven Blick auf die Wiederauflage des legendären Moog System 15. Zudem lassen wir den Synthesizer-Pionier Morton Subotnick sowie den aus Chicago stammenden Modular-Gothic-Künstler Surachai zu Wort kommen.
Mit einem Besuch bei Volker Müller im Studio für Elektronische Musik Köln tauchen wir ab in die Frühzeit der Modularen Synthese und in die Arbeitsweisen von Avantgardisten wie Karlheinz Stockhausen. Außerdem trafen wir uns mit dem Grandseigneur der Elektronischen Musik Jean-Michel Jarre um über Modular-Synthese, Live-Equipment und seine Kollaboration mit Edward Snowden zu sprechen.
Darüber hinaus besuchten wir Martin Höwner von Synthtaste in seiner exklusiven Restaurations-Werkstatt für Vintage-Synthesizer. In unserer Serie Vintage Park widmen wir uns diesmal dem aus Hawai stammenden Modular-Exoten Paia 4700.
Mit Reaktor 6 Blocks von Native Instruments befassen wir uns in der aktuellen Ausgabe unsres Magazins auch mit der Software-Seite der Modular-Synthese und den neuen damit verbundenen Möglichkeiten. Außerdem gedenken auch wir dem unvergessenen Prince Rogers Nelson mit einer exklusiven Transkription seines Klassikers Purple Rain.
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Keine Frage: Jarres Synthis werden zweifellos regelmäßig bespielt. Und das nicht nur hier im Studio in Paris. Der Grand Monsieur der Elektronik ist auch einer der analogen Tradition. Live auf der großen Bühne, wo’s geht ohne Computer, dafür umgeben von 60, 70 der analogen Oldtimer – und im Zentrum der Künstler, der seine Fans auch in Riesenhallen gerne per Handschlag begrüßt. So liebt Jean Michel Jarre es noch immer. Das hat er gerade erst wieder im vergangenen Jahr auf seiner jüngsten Europa-Tour klar gemacht. Über sich und seine Mitstreiter wird er uns später, bewusst zweideutig, sagen: „Wir sind wie ein Symphonieorchester mit Elektrizität.“
“Wir sollten nicht vergessen, dass die analoge und die digitale zwei ganz verschiedene Welten sind.“
Noch immer stehen wir staunend vor dem Arsenal an Synth-, Drumcomputer- und Sequenzer-Hardware. Techniker bei Jean Michel – das muss einer der härtesten Jobs der Welt sein … „No, no“, beschwichtigt Patrick Pelamourgues, der gerade um die Ecke biegt. Es scheint, als funkelten dem bescheidenen Synth-Crack – seit 1988 technische rechte Hand Jarres – förmlich die Augen, sobald er sich einem der Instrumente nähert. Patrick begleitet noch heute alle Jarre- Touren; denn er weiß genau, wie und wann welches Instrument am besten warmlaufen muss und nachzustimmen ist, damit es pünktlich zum Auftritt wieder zuverlässig arbeitet. (In den 70ern arbeitete Jean Michel Jarre mit Michel Geiss zusammen, der für ihn Sequenzer und Drumcomputer entwickelte)
Hier in Paris hat er dann Zeit, alle AnalogDinosaurier vernünftig zu warten. Das geht bis hin zu aufwendigen Restaurationen, für die er Originalteile aus der ganzen Welt aufzutreiben im Stande ist. „Viele beneiden mich um meinen Job“, ist er überzeugt, und demonstriert uns schnell noch ein paar Oxygène-Sounds am EMS und ARP. Doch erst später, nach dem Zusammen – treffen mit Jean Michel Jarre, dämmert uns, was so unterschiedliche Persönlichkeiten – den zurückhaltenden Techniker und den das Millionenpublikum suchenden Elektronik- Mastermind – miteinander verbindet: Es ist ihre Seele, ihre Emotion, die beide in ihr Schaffen hineinlegen.
Jean Michel Jarre hat vor dem Mischpult im Nebenraum Platz genommen. Er wirkt fit, aufgeweckt; höflich, nett und nicht ein biss – chen unnahbar. Vom Rentenalter scheint er Lichtjahre entfernt zu sein. Dabei muss ihm die eigene Vergänglichkeit in jüngster Zeit oft allgegenwärtig gewesen sein. „Die letzten Jahre waren eine sehr emotionale Zeit für mich“, beginnt er, als wir ihm Fragen über aktuelle Projekte stellen.
In der Tat: Zwischen Frühjahr 2009 und Sommer 2010 verstarben nicht nur beide Eltern, sondern auch sein erster Produzent: Der Filmmusiker Maurice Jarre, der sich von Jean Michels Mutter scheiden ließ, als das Kind erst fünf Jahre alt war; der dann in Amerika seine Karriere startete, dort noch dreimal heiratete, eher sporadisch Kontakt zur Familie in Frankreich hielt und eine musikalische Zusammenarbeit mit dem Sohn später stets abgelehnt hat. Die Mutter Francette Pejot, die Jean Michel Jarre allein aufzog. Sein musisches Interesse verstand die Jazz-Liebhaberin auf ihre eigene Art zu aktivieren, in dem sie ihren damals schon Klavier spielenden Sohn an seinem zehnten Geburtstag in einen Club entführte, wo ihm Chet Baker trompetend gratulierte.
Und nicht zuletzt Francis Dreyfus. Unter seinem Label veröffentlichte Jean Michel Jarre nicht nur seit 1971 seine Alben, darunter die Welterfolge Oxygène (1976) und Equinoxe (1978); auch war er Mitorganisator des spektakulären ersten „Live-Happenings“ Jarres 1979 auf dem Place de la Concorde in Paris vor über einer Million Zuschauern. Oder des Aufsehen erregenden „Concerts in China“-Projekts, das den Franzosen als ersten westlichen Musiker nach der Mao-Zedong-Ära in die Volksrepublik führte.
„Im Moment arbeite ich wieder viel mit analogen Synthesizern“, berichtet Jean Michel Jarre. Das sei zwar schon seit dem Re-Recording von Oxygène anlässlich des 30. Jubiläums der Produktion so, doch vielleicht haben gerade die jüngsten Schicksalsschläge das Besinnen auf die eigenen frühen Tage noch verstärkt. „Wir sind damit zu jenem Sound zurück – gekehrt, mit dem ich meine Karriere gestartet habe“, berichtet Jarre. Mit „wir“ meint er Francis Rimbert, Claude Samard und Dominique Perrier, die seit 2007 mit ihm auf den Bühnen stehen, um Oxygène wieder mit den Originalinstrumenten live aufzuführen. „Da war plötzlich wieder diese Erfahrung: Wow! Das klingt einfach so anders, als wenn du nur digital mit Computern und Software produzierst. Wir hatten fast vergessen, welch einen Unterschied das macht“, schwärmt er über die guten alten Analogen im Nebenraum.
Klangbeispiel Roland Jupiter 8
https://soundcloud.com/keyboardsde/kult-love-the-machines-rola
Ein Moog Modular, ein Yamaha CS-80 oder ein Mellotron sind für den Synth-Pionier „wie eine Stradivari“. „Sie sind mit Software einfach nicht zu ersetzen. Es ist etwas Grundverschiedenes, ob du an solchen analogen Klassikern schraubst oder versuchst, ein Poti am Mac oder PC mit der Maus zu drehen. Wir sollten nicht vergessen, dass die analoge und die digitale zwei ganz verschiedene Welten sind“, findet Jarre.
Soll das etwa heißen, dass früher alles besser war? Verschließt sich da gar jemand der technologischen Entwicklung? Nein, und nein! Und vor allem gerade nicht Jean Michel Jarre! Der Franzose ist bis heute ein Vordenker geblieben. Seine Konzerte funktionieren auch gerade deshalb als fulminante Massen-Events, weil der Elektromusiker schon immer multimedial gedacht hat. Während Jarre schon Ende der 70er fast besessen davon schien, die Visualisierung seiner Musik auch live mit immer neuer Lichtund später Laser-Technik voranzutreiben, schliefen die meisten anderen Künstler in dieser Hinsicht noch. Und bereits 2000 mischte er sein komplettes Métamorphoses-Album mit einer frühen Version von Pro Tools. Heute liebt er Softsynths wie zum Beispiel Spectrasonics Omnisphere. „Aber manchmal ist es einfach frustrierend, damit nicht so arbeiten zu können wie am Modular-Moog. Ich erwarte deshalb für die nächsten Jahre auch einen deutlichen Fortschritt in der Entwicklung neuer Interfaces für die digitale Musikbearbeitung“, sagt Jarre, unser Gespräch übrigens schon die ganze Zeit auf seinem iPhone aufzeichnend – „Nur, damit wir auf der sicheren Seite sind.“
Apropos Apple: Ein iPad besitzt er auch, natürlich. „Ich schätze es sehr, zum Beispiel als Pro-Tools-Remote. Du kannst es überall im Studio bei dir haben, wie einen kleinen Recording-Roboter. Aber ich finde nicht, dass Controller wie das iPad die 3D-Fader meines Mischpults ersetzen sollten.“ Warum eigentlich nicht? „Weil wir alle ‚Analog Animals‘ sind, die ihren Körper wohl auch in Zukunft nicht abstreifen, um zu einer Art Ektoplasma-Wesen zu werden. Zum Musikmachen brauchen wir unsere Finger, und Violine auf dem iPad zu spielen ist schlichtweg Nonsens. Etwas anderes ist es wiederum mit Instrumenten, die speziell für das iPad entwickelt werden. Es gibt da schon gute Sachen, aber umgekehrt sind aus genau diesem Grund die analogen Synthesizer Instrumente, die für sich selbst sprechen und daher weiterhin eine große Zukunft haben.“ Keine Frage: Seine persönliche Grenze zwischen analog und digital zieht Jean Michel Jarre heute sehr messerscharf.
Vor allem aber ist es eines, das ihn auch heute noch antreibt, sich live mit einer ganzen Armada an Analogsynths mit all ihren technischen Unzulänglichkeiten und individuellen Macken zu umgeben. Klar geworden sei ihm das unter anderem während der Restauration alter Analogtapes für seine Francis Dreyfus gewidmetes Doppel-Werk Essentials & Rarities – erhältlich übrigens auch auf Vinyl: „Der Sound ist wirklich außergewöhnlich – man hört förmlich die Wärme alter Transistoren.“
Die Wärme der alten Analogen – für den Künstler Jarre ist das eine entscheidende, emotionale Sache in der elektronischen Musik. Eine übrigens, die dem Massenpublikum seiner Ansicht nach lange Zeit verborgen blieb: „Weil sich die elektronische Musik anfänglich sehr ambivalent entwickelt hat“, holt er aus und erklärt sich: „Walter Carlos’ an sich großartiges Switched-on-Bach-Album (1968; die Red.) verfestigte den Glauben vieler, der Synthesizer sei ein Fake-Instrument, das nur dazu gedacht ist, klassische Instrumente zu imitieren. Dann kamen Gruppen wie Kraftwerk und Tangerine Dream, die ebenfalls brillante Alben geschaffen haben, die aber oft wie eine Apologie des Maschinellen, Roboterhaften wahrgenommen wurden. So gut das vom Konzept her auch war, so hat es doch nicht dazu beigetragen, Synthesizer als Instrumente zu betrachten, die Wärme in die Musik bringen und diesen Sound als emotionale Komponente weiter entwickeln können. Anfang der 90er wiederum wurde die elektronische Musik in Form von Techno und Dancefloor populär – auch hier dominierte wieder diese mechanische, roboterhafte gegenüber der emotionalen Komponente.“
Den Gegenentwurf sieht Jarre manifestiert mit Acts wie Air, Massive Attack, Moby – oder auch sich selbst. Jarre begreift sich dabei in der Tradition „der beiden Väter der elektronischen Musik Pierre Schaeffer und Karlheinz Stockhausen“. Sein Ansporn als junger Student aber sei die Idee gewesen, „Experimentalmusik mit Melodien und Popsound zu verbinden“.
„Wir wissen alle, dass elektronische Musik vielschichtiger ist und weit über Techno und Dancefloor hinausgeht“, sagt er heute. Jedenfalls sei das so, wenn die Persönlichkeit des Künstlers es zuließe. Dann nämlich werde klar: „Die Emotionen, die elektronische Musik transportieren kann, hängen weniger von den Instrumenten ab die du benutzt, sondern haben vielmehr mit dir selbst zu tun.“ Der warme Sound analoger Synths, gepaart mit der Persönlichkeit des Künstlers – für den Elektronik-Meister aus Frankreich ist das wie eine musikalische Zwangsehe.
>> Die Synth-Legenden aus dem Hause Moog <<
Und Bezeichnenderweise ist dem Sohn des Komponisten epischer orchestraler Filmmusik Maurice Jarre dann noch eines besonders wichtig zu betonen: „Für mich kommt die elektronische Musik strukturell von der klassischen Musik – wobei ich das in der französischen und deutschen Tradition viel stärker so sehe, als es in der amerikanischen oder der britischen Szene verankert ist. Elektronische Musik hat eine komplexe Struktur, die auf derjenigen von Concertos oder Symphonien basiert – aber nicht diejenige von 3-Minuten-Songs.“
Schön. Allerdings ist Pelamourgues nicht bereits seit 1978 (wie im Artikel erwähnt) bei Jarre dabei, sondern erst seit 1988. Davor war es primär Michel Geiss, der viele Gerätschaften von Jarre modifizierte/reparierte und auch als Musiker für ihn tätig war!
Vielen Dank für den wertvollen Hinweis! Stimmt: Früher war es Michel Geiss, der eine Reihe bahnbrechender Gerätschaften entwickelte damals. Wir haben dazu noch eine Story im Sound&Recording-Archiv gefunden und gerade online gestellt… echt spannend zu lesen. https://www.keyboards.de/stories/michel-geiss-perry-rhodan-cd-project/
Worte aus berufenem Munde. Leider versucht die Industrie und Medienlandschaft gerade jungen Musikern das Gegenteil einzureden und das leider recht erfolgreich.
Sehr interessanter Artikel. Kleine stilistische Absurditäten wie z.B. “vis à vis der Seine” oder “vom Rentenalter noch Lichtjahre entfernt” muss man dem Verfasser einfach verzeihen. Das Verhältnis von Maurice, seinem Vater (Komponist der Doktor-Schiwago-Melodie) zu Jean-Michel Jarre wäre evt. noch einen kleinen Exkurs wert gewesen. Mir fiel damals die relative kompositorische Eintönigkeit auf z.B. Popcorn und Oxygène verwenden fast die gleiche Melodie. Auch die Harmonik ist im Vergleich z.B. zum Jazz stark eingeschränkt. Die analogen Synthesizer bringen etwas Monumentales in die Musik, welches durch komplizierte Harmonien vielleicht irgendwie in der Wirkung reduziert werden würde.
“Alte Synthesizer sind die Stradivaris der Neuzeit” — diesen Psalm betet der gute Mann schon seit 18 Jahren gebetsmühlenartig rauf und runter. Kauft ihm doch mal eine neue Worthülsenmaschine — und nehmt ihm diese albernen Topfdeckel weg, auf die er am Ende jedes Taktes haut.
Jean-Michel Jarre,Patrick Pelamourgues and Tom Hidley designed Jared’s Croissy (sur Seine) studio in 1978 (also together with Jean-Pierre Lafont ; Lafont & Hidley are legendary studio acoustics designers/engineers).