Kolumne: Generative Musik
Bevor es die ersten Tonaufnahmen gab, konnte man Musik nur im Moment und vor Ort erleben − man sang, spielte sein Instrument oder war Zuhörer und lauschte den Klängen der Musiker. Jedes Stück, jede Darbietung war ein Unikat − es gab kein Playback, das vorab aufgenommen wurde und während des Auftritts im Hintergrund lief, keine Drums oder Background-Vocals, die vom Band kamen, keine eingespeicherten Flächen, die vom Rechner liefen, keine Presets, die man auf einem iPad hätte abrufen können. Somit war jede musikalische Darbietung einzigartig durch all ihre Variationen, Abweichungen, Ungenauigkeiten und unterschiedlichen Interpretationen von unterschiedlichen Musikern.
Bei all den Vorteilen, die die Möglichkeit der Fixierung von Schall auf ein physikalisches oder digitales Medium mit sich bringt, hatte die damalige Flüchtigkeit des Tons durchaus auch ihre charmanten Seiten. Die Stücke klangen im Vergleich zur fixierten Aufnahme naturgemäß weniger schnell monoton und waren durch all die individuellen Interpretationen mit ihren wohltuenden Ungenauigkeiten weitaus lebendiger.
Diese Ungenauigkeiten im Spiel werden auch heute noch oftmals vor allem in der elektronischen Musik simuliert, um dem Song das schwer zu beschreibende »fehlende Etwas« zu verleihen. Durch kleine Fehler im sonst perfekten Grid, Inkonsistenzen, Modifikationen und Funktionen wie Humanize oder Randomize erhält der Song eine menschlichere Note und wird dadurch weniger vorhersehbar und lässt das Ohr immer wieder neue Details entdecken, wodurch es interessiert bleibt und nicht allzu schnell ermüdet. Diese Ungenauigkeiten sind meist auch gar nicht bewusst wahrnehmbar. Wenn man sie allerdings alle »wegquantisiert«, klingt es schnell steril und mechanisch − vorausgesetzt natürlich, man möchte nicht genau diesen Effekt mit seiner Produktion erzielen.
Eine andere interessante Herangehensweise, um Musik lebendiger zu halten, ist die der Generativen Musik, die auch in der modularen Ambient-Szene sehr beliebt ist und bei Künstlern wie R Beny, Lightbath, Ann Annie, Emily Sprague oder Jericho zu hören ist. Der Begriff beschreibt Musik, die von einem vorab eingerichteten System erzeugt wird und sich beständig verändert. Bei dieser Art des Komponierens ist es essenziell, sich vorab die Frage zu stellen, wie dieses System aufgebaut sein soll, welche Komponenten man dem Zufall überlassen oder variabel halten möchte und mit welchem Material man es speisen will. »Diese Fragen werden anschließend durch Zufallsgeneratoren beantwortet, anstatt durch die eigenen Vorlieben und Abneigungen, und das eröffnet einem Möglichkeiten, die man sonst nicht in Betracht gezogen hätte«, so John Cage im Jahre 1985.
Das hierzu benötigte System kann vielfältig beschaffen sein. Es kann beispielsweise ein mechanisches System, bestehend aus zwei oder mehreren Bandmaschinen, sein, die man in verschiedenen Geschwindigkeiten zueinander laufen lässt, wie Steve Reich es schon 1965 für seine Komposition It’s Gonna Rain oder Brian Eno einige Jahre später für sein Album Music for Airports getan hat. »Solche Stücke haben eine beinahe unendliche Länge, da sie sich einfach kein zweites Mal mehr in derselben Art rekonfigurieren lassen. Die wichtigen Fragen sind dann schließlich, wie das System funktionieren soll, und noch wichtiger, mit was man das System speisen will«, so Brian Eno.
Neben mechanischen gibt es natürlich auch andere Aufbauten, mit denen sich Generative Musik erzeugen lässt − digitale Programme beispielsweise mit ihren sehr effektiven Zufallsgeneratoren und der Möglichkeit, sie mit der externen Welt zu vernetzen. Tero Parviainen hat unter anderem ein Programm entwickelt, das immer dann einen Ton innerhalb der pentatonischen Skala ausgibt, wenn eine Trambahn in Helsinki eine digital angelegte Rasterlinie überschreitet. Das Ergebnis klingt verträumt schön und ist darüber hinaus auch faszinierend anzusehen.
Auch in der Welt der modularen Synthesizer sind generative Patches inzwischen oft zu hören. Hier stellt man sich ebenfalls die Frage, welche Sounds und Spuren fixiert und welche sich stetig und unvorhersehbar verändern sollen. Module, die solche Zufalls-Spannungen oder -Gates ausgeben, gibt es in Hülle und Fülle, darunter beispielsweise den kartesianischen Sequenzer René von Make Noise, simple Rauschgeneratoren sowie Sample&Hold-Module diverser Hersteller, das neue Marbles-Modul von Mutable Instruments, die Turing Machine von Music Thing Modular und noch viele mehr.
Natürlich ist auch hier, sobald man alle Variationen physikalisch oder digital aufgenommen und somit fixiert hat, wieder nur eine finale Version zu hören. Aber zumindest beim ersten Hören wird man immer wieder mit neuen und unerwarteten Details überrascht und kann so manchem Patch hypnotisch fasziniert lauschen, so wie auch die Wellen eines Baches immer gleich klingen, obwohl sie in jedem Augenblick neu entstehen. In diesem Sinne … ich geh dann mal patchen.
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