Jamie Cullum zur Entstehung seines Albums Taller
Fünf Jahre nach Interlude stellt der Engländer Jamie Cullum sein achtes, Taller betiteltes Studioalbum vor. Zeit für ein Gespräch mit einem sympathischen Vollblutmusiker und Musikliebhaber − ehrlich, begeisterungsfähig, grenzübergreifend denkend und neugierig − über das Thema Komposition …
Taller greift persönliche Erlebnisse des in London ansässigen zweifachen Familienvaters auf. In zehn Titeln und sechs weiteren Kompositionen auf der Deluxe-Version überzeugt Cullum durch stilistische Breite. So hört man unterschiedliche Balladen, von intim bis zum charttauglichen Pop-Arrangement, das deutlich an Prince erinnernde Usher, die Nummer Mankind mit gospelartigem Background oder den eher Hip-Hop/RnB-lastigen Titeltrack. Cullum, der eher als Jazzmusiker gilt, wandelt hier stilsicher zwischen den Genres.
Gab es eine Art Startschuss für Taller?
Die letzten fünf Jahre in meinem Leben waren recht turbulent. Die Kinder sind gewachsen, es gab Krankheitsfälle und Problemsituationen bei Freunden. Dinge, die im mittleren Alter eben so auftauchen. Schon vor viereinhalb Jahren hatte ich mit einem neuen Album begonnen und bereits ein paar Titel komponiert. Ich war damit allerdings nicht wirklich glücklich, denn sie reflektierten meine Lebenssituation nicht wirklich. Als Konsequenz habe ich mir eine Auszeit gegönnt. In dieser Zeit habe ich zwar weiterhin live gespielt, aber doch ein wenig an Selbstbewusstsein verloren. Entsprechend tat es gut, etwas Abstand zu gewinnen.
Als Komponist gibt es immer wieder Situationen in deinem Leben, die Einfluss auf dich nehmen und die im Ergebnis zu einem neuen Song führen können. So schön das ist: Man sollte umgekehrt auch beachten, wie dich ein solches Ereignis auch als Person beeinflusst … Ich habe dann nach etwa anderthalb Jahren schließlich den Titel Drink verfasst, mit dem das Album dann tatsächlich Fahrt aufnahm. Es fühlte sich ehrlich an, gefiel mir und ich wollte in dieser Art weiterarbeiten.
Einige Titel haben eine wirklich intime Nähe …
Ja, sehr sogar, denn ich habe viel Material allein zu Hause in meinem Studio aufgenommen. Ich war mir zu diesem Zeitpunkt übrigens noch gar nicht sicher, ob das Album überhaupt herauskommen würde. Zuallererst war es mir wichtig, Musik zu komponieren, die sich gut für mich anfühlte. Taller ist mein achtes, genauer gezählt, neuntes Album. Ich habe in der Vergangenheit viel darüber nachgedacht, ob meine Musik bestimmte Kriterien erfüllt, etwa ob da »genug« Jazz enthalten ist. Das neue Album passt diesbezüglich nicht wirklich in eine Schublade. Es ist eine Sammlung von Songs, bei denen man teils Jazz-, Funk-, Pop- und auch Singer/Songwriter-Elemente hört. Ich habe ganz bewusst nicht über Genres nachgedacht und habe die Songs aus mir herausfließen lassen.
Entsprechend gab es auch kein Albumkonzept?
Eigentlich nicht. Allerdings habe ich viele Titel mit den Texten begonnen. Das habe ich so zuvor nicht getan.
Gibt es denn einen typischen Weg, wie neue Ideen ihren Weg zu dir finden?
Nicht unbedingt. Ich muss aber in der Lage sein, Langeweile zuzulassen. Ich glaube, dass wir uns als Menschen heute tatsächlich zu wenig Zeit für Langeweile oder Träumereien lassen. Ständig wird unsere Aufmerksamkeit beansprucht. Ich genieße es, einen Spaziergang ohne mein Telefon und ohne Kopfhörer zu machen. Dabei entdeckst du Dinge, die du wahr – genommen hast und die dich vielleicht bewegt haben. Und als Songwriter ist es meine Aufgabe, die Dinge zu isolieren, die einer Betrachtung wert sind − das Einfangen der Idee. Ausgehend davon muss ein solches Thema anschließend in Musik verwandelt werden − eine Tätigkeit, die einem regulären Job schon ähnlicher ist. Für diesen zweiten Teil verbringe ich viel Zeit in meinem Studio, von morgens bis zum späten Nachmittag, wenn die Kinder aus der Schule kommen.
Hast du direkt ein Bild des fertigen Titels vor dem inneren Auge?
Du musst auf den Song hören. Es gibt einen Titel namens You Can’t Hide Away From Love, eine jazzige Ballade. Dieser Song nahm seinen Anfang mit der ersten Textzeile, dennoch wusste ich unmittelbar, in welche Richtung es gehen würde. Das liegt auch daran, dass ich ein riesiger Musikfan bin. Nicht nur ein bisschen, sondern so richtig! Ich höre ständig Musik und habe überall im Haus gute Lautsprecher bereitstehen, mein Beitrag zur Wohnungsausstattung.
Ich bin ein Nerd und denke sofort darüber danach, wer diesen Titel aufgenommen hat, in welchem Raum, mit welchem Mikrofon, welchen Instrumenten und welchen Presets.
Früher hätte ich direkt ein Arrangement ausgearbeitet. Diesmal habe ich jedoch versucht, das zu vermeiden. Taller ist ein gutes Beispiel. Ich hatte den Songtitel, die Idee und den Text, noch bevor ich wusste, wie die Musik dazu klingen würde. Ich wusste nur, dass ich mir auch ein Riff wünschen würde.
Drink wäre ein anderes Beispiel. Der Titel begann als Pianoversion mit Gesang. Ich hatte dann die Idee, die Musik im Zeitverlauf immer größer werden zu lassen.
Eine der wenigen Kompositionen, bei denen es einen konkreten Produktionsgedanken gab, war Usher. Da gab es die klare Idee, dass ich einen »Prince-Song« machen wollte.
Wie arbeitest du deine Songs aus?
Ich beginne in Logic Pro, denn damit kann ich schnell arbeiten. In meinem Studio sind die meisten Instrumente außerdem direkt aufnahmebereit: ein mikrofoniertes Drumkit, ein Klavier, ein Flügel, einen Fender Precision Bass und eine gute Auswahl von Synthesizern, von denen diesmal vor allem mein Minimoog von 1973 und mein Prophet-5 zum Einsatz kamen. Ich habe zudem meine Hammond mit einem Leslie und, auf Monster, ein Wurlitzer eingesetzt, das ich wirklich günstig bei einem Gebrauchtwarenhändler gefunden habe. Dazu kommen natürlich etliche Plug-ins.
Wenn ich dann eine Idee des Arrangements ausgearbeitet habe, wechsle ich schließlich zu Pro Tools. Ich arbeite dann auch mit einem Toningenieur und Troy Miller als Produzent zusammen, in dessen Studio wir dann weitere Aufnahmen gemacht haben.
Habt ihr dort dann auch die Background-Gesänge aufgenommen?
Ja, ich habe mich durch Bob Dylans Born-Again-Phase inspirieren lassen. Diese Backings entstanden sogar noch vor den Streichern oder Bläsern und gehören einfach fest zu den entsprechenden Kompositionen und prägen diese. Das gilt natürlich auch für den Kinderchor auf Age Of Anxiety. Dabei wollte ich ein Gefühl erreichen wie Pink Floyd bei Another Brick In The Wall. Die jungen Menschen erzählen den älteren, dass alles gut werden wird. Kinder erinnern uns doch ständig an das Gefühl von Liebe und das Leben im Hier und Jetzt.
Wenn ich es richtig verstehe, spielst du die meisten Instrumente zunächst selbst. Werden sie final dann von anderen Musikern neu eingespielt?
Auf Usher war das nicht der Fall. Ich habe Schlagzeug, Bass und Clavinet gespielt. Heute gibt es auch keine wirklich scharfe Trennung zwischen Demo und finaler Aufnahme mehr. Allerdings ist Troy nicht nur ein genialer Produzent, sondern gehört auch zu den besten Schlagzeugern, die ich kenne. Er hat also die meisten Tracks eingespielt. Bei anderen Titeln wie Endings Are Beginnings hörst du nur mich am Klavier. Bei Life Is Grey startete es ähnlich, aber wir haben später Streicher zu meinen Demoaufnahmen ergänzt.
Kommt es denn vor, dass du einen Titel in Logic mit einem Drumbeat beginnst?
Ja, das passiert durchaus auch. Ich sitze am Laptop, habe einen Beat und probiere dazu eine Akkordfolge. Mir gefallen die neuen Abomodelle für neue Sounds, etwa Splice. Das ist großartig und inspirierend, wenn ich einen neuen Snare-Sound, eine Bassdrum, andere tolle Sounds oder einen Loop suche, den ich zerlegen kann.
Stichwort Usher: Dort sind eine Menge Bläser zu hören!
Der Titel begann mit einer Bassline, die ich geloopt habe. Dazu kommen Gitarren und ein paar Beats. Dazu hatte ich bereits einen Song mit meinem Bruder komponiert und programmiert. Diese Elemente haben wir schließlich auf einer Bandmaschine kombiniert. So hörst du Troy in den Strophen am Schlagzeug, während im Mittelteil der programmierte Loop, den ich von einer Platte gesampelt und zerlegt habe, spielt. Ergänzt habe ich dann noch ein Mellotron mit einem Roland Space Echo. Die Bläser wurden dann bei Troy live eingespielt. Der Titel entstand also Stück für Stück, aber ich finde, dass er sich ziemlich live anhört. Das ist normalerweise auch nicht meine typische Arbeitsweise. Es gibt nicht zehn, sondern eher zwei Gesangs-Takes, und ich spiele den Bass und das Schlagzeug von Anfang bis Ende durch, weil ich meine, dass das Ergebnis dadurch lebendiger klingt.
Wie bringst du die Titel auf die Bühne?
Ich habe zunächst einmal eine Band. Dazu empfinde ich das Ziel, ein Album möglichst identisch auf die Bühne zu bringen, etwas langweilig. Ich möchte Musiker um mich versammeln, die ich mag, mit großartigen Instrumenten. Es ist daher überhaupt nicht nötig, jeden Sound zu reproduzieren, denn wir haben wirklich tolle SängerInnen, die wesentlich zum Sound beitragen. Ich möchte, dass wir den Song spielen und nicht umgekehrt. Wir spielen immer komplett live, ohne Klick und Backing-Tracks. Wir haben das versucht, aber es fühlt sich für meine Begriffe hölzern und unnatürlich an. Ich möchte am Arrangement oder am Timing drehen können. Und mir gefällt es einfach, guten Musikern zuzuhören. Daher bin ich der Überzeugung, dass eine echte Liveband hierfür den Freiraum schafft. Wir danken dir für das nette Gespräch!