Digitale Pfeifenorgeln und das Original
Lange bevor die ersten Synthesizerboliden zum Mittelpunkt des Klanguniversums wurden, herrschte die Pfeifenorgel unangefochten als „Königin der Instrumente“ über ein Repertoire von 30 bis 100 Klangfarben pro Instrument. Inzwischen haben auch einige Synthesizerhersteller virtuelle Pfeifenorgeln im Programm.
Spricht man bei Synthesizern von „Vintage“, so meint man damit Instrumente, die zwischen 20 und maximal 40 Jahre alt sind. Historische Orgeln sind häufig zehn Mal so alt, und auch sonst ist die Orgel ein Instrument der Superlative: Unter allen akustischen Instrumenten stellt sie Rekorde in Bezug auf Größe, Tonumfang, dynamische Bandbreite und Klangvielfalt auf. Es ist daher klar, dass die einfachen „Church-Organ“-Presets, die häufig in Digitalpianos, Workstations und MIDI-Expandern anzutreffen sind, diesen Klanggewalten nicht einmal annähernd gerecht werden können. Bereits seit Jahrzehnten gibt es aber auch Hersteller, die sich auf die differenzierte elektronische Reproduktion des Orgelklangs spezialisiert haben.
Zwei der ganz großen Namen sind hier die „Allen Organ Company“ und „Rodgers“, deren Produkte primär für den Einsatz in Kirche und Konzertsaal gedacht sind.
In den letzten Jahren ist im Markt der digitalen Pfeifenorgeln eine deutliche Zunahme der Produktvielfalt und Klangqualität zu verzeichnen. So gibt es speziell für Orgelklang entwickelte Expander, Samplingsoftware und auch komplette Orgeln samt Spieltisch und Pedal. Neben den etablierten Orgel-Herstellern haben sich inzwischen auch Clavia und die Vienna Symphonic Library dem Orgelklang gewidmet. So bietet die Clavia Nord C2 Combo Orgel, neben verschiedenen elektronischen Orgeln der 50er und 60er, auch eine barocke Pfeifenorgel mit 21 Registern. Die Zeit scheint also reif für eine Bestandsaufnahme, die wir Ihnen in einer zweiteiligen Artikelserie präsentieren möchten. Wie wir noch sehen werden, gehört die detailgetreue Nachbildung von Orgelklängen zur hohen Schule des digitalen Instrumentenbaus. Der technisch interessierte Musiker kann hier also viel über die Hintergründe der digitalen Klangsynthese lernen.
Digitale Orgeln von Roland
In dieser ersten Folge stellen wir Ihnen die Orgel C-330 sowie das Orgel-Keyboard C-230 aus dem Hause Roland vor. Nach der Übernahme von Rodgers im Jahre 1988 sind dies die ersten Sakral- und Kirchenorgeln, die Roland unter eigenem Label herausbringt. Anhand der umfangreichen Einstellmöglichkeiten für Klangabstrahlung, Disposition und Intonation lässt sich bei diesen Orgeln besonders gut nachvollziehen, wie sich die Herausforderungen des digitalen Orgelbaus elegant meistern lassen.
Das C-230 ist ein einmanualiges Keyboard, das neben den Orgelregistern auch noch andere klassische Tasteninstrumente simuliert, und zwar zwei historische Hammerklaviere, ein französisches Cembalo sowie Chimes und Celesta.
Die Orgel C-330 verfügt über einen zweimanualigen Spieltisch mit Pedal. Schauen wir uns dieses Instrument im Folgenden etwas näher an. Auf den ersten Blick fällt das schlichte, platzsparende Design von Spieltisch und Gehäuse auf. Der Spieltisch folgt den vom Bund Deutscher Orgelbaumeister festgelegten Normmaßen für Klaviaturen und Pedal, verzichtet dabei aber auf jeden überflüssigen Zentimeter.
Das Bedienkonzept ist durchdacht und möglichst einfach gehalten. Wer einfach nur Orgel spielen möchte, findet sämtliche Registerwippen und Koppeln genauso vor wie auf einer akustischen Orgel. Nun ist aber die Registerzusammenstellung einer akustischen Orgel, ihre Disposition, je nach Region, Epoche und Orgelbauwerkstatt unterschiedlich. Zudem wurden viele Orgeln im Laufe ihrer Geschichte erweitert und umgebaut, sodass sie einen Mix aus Registergruppen verschiedener Epochen aufweisen. Die C-330 ermöglicht daher, die Disposition aus einer Registerbibliothek zu wählen. Pro Registerwippe stehen jeweils vier Register aus unterschiedlichen Stilrichtungen und Regionen zur Verfügung, wobei das Spektrum vom Barock bis zur Romantik reicht. Ab Werk sind die Register mit den vier Stilen BAROCK, ENGLISCH, FRANZÖSISCH und AMERIKANISCH belegt. Jede Registergruppe (Manual I & II und Pedal) hat zwei User/ MIDI-Koppeln, über die man weitere Register und auch einige Orchesterklänge zuschalten kann. Per MIDI lassen sich hier auch externe Klangerzeuger, wie etwa das Rodgers-Zusatzmodul MX-200, ansprechen.
Die zwei Manuale mit je 61 Tasten sind eine Eigenentwicklung von Roland, die den Druckpunkt einer mechanischen Traktur simuliert. Das Pedal hat 30 Tasten in parallel-konkaver Anordnung. Wer sich auf dem Pedal nicht ganz sicher fühlt, der kann per Bass-Koppel die Pedalstimme einfach per Hand spielen. Dabei erklingt die tiefste auf Manual I gespielte Note zusätzlich auch auf dem Pedalwerk. Eine ähnliche Koppel gibt es für die Melodie. Diese koppelt die höchste Note von Manual I mit Manual II. Neben diesen Spielhilfen finden sich auch die üblichen Koppeln II/I für die Manuale sowie I/P und II/P für die Verbindungen zwischen Pedal und Manualen.
Registrierungen lassen sich in insgesamt 100 Setzern speichern, die in 20 Gruppen angeordnet sind. Für die fünf Setzer einer Gruppe gibt es jeweils einen eigenen Taster. Zur Speicherung dient die Taste SET, der auch sonst bei der Bedienung eine zentrale Rolle zukommt. Drückt man Set und betätigt gleichzeitig etwa eine Wippe, Taste oder das Schweller-Pedal, wird automatisch das passende Menü angezeigt. Zeitgemäß lassen sich sämtliche Registrierungen und Einstellungen auf einem USB-Stick speichern.
Die Größe einer realen Orgel stellt in mehrfacher Hinsicht eine Herausforderung dar: Dies beginnt bei den Pfeifen, deren Fußbezeichnungen (z. B. 8′, 16′, 32′) echte Längenangaben sind. Die Pfeifen eines 32′-Registers erreichen mit etwa 11 Metern also ungefähr die Länge von vier Konzertflügeln. Entsprechend träge ist der Einschwingvorgang, was eine aufwendige Modellierung der Attack-Phase erfordert.
Die Roland-Orgeln bilden das Einschwingen mit den dazugehörigen Windgeräuschen detailgetreu nach. Man kann hier beispielsweise bei einigen Registern deutlich hören, wie der Ton zunächst auf dem zweiten Oberton einschwingt.
Intonation
Es ist wenig überraschend, dass die Orgel als Instrument mit dem größten Tonumfang höchste Anforderungen an die Klangabstrahlung stellt. Neben dem breiten Klangspektrum muss auch die Ausdehnung des Instruments bei der Wiedergabe ihre Entsprechung finden. Bei einer realen Orgel sind die Pfeifen in allen drei Raumdimensionen über das Instrument verteilt, wobei auch die Raumtiefe durchaus mehrere Meter betragen kann. Für den digitalen Orgelbauer heißt dies, dass er seine virtuellen Pfeifen mindestens über ein Stereo-Panorama verteilen muss, und zwar so, dass sich die 10 bis 100 Register der Orgel zu einem harmonischen Gesamtklang mischen.
Roland bietet zu diesem Zweck umfangreiche Einstellmöglichkeiten sowohl für die Anordnung der Pfeifen im Stereo-Panorama als auch für die Positionierung ganzer Register. Um die räumliche Trennung der unterschiedlichen Werke einer Orgel zu simulieren, bietet die C-330 drei Stereo-Paare zur Wiedergabe an: Main, Satellite und Line Out. Die Zweiwege-Boxen des Main-Kanals sind im Instrument eingebaut, während die Satellite-Lautsprecher separat aufgestellt werden können.
Die Akustik des umgebenden Raums trägt wesentlich zum Klang einer Orgel bei. Entsprechend kann die Raumsimulation der C-330 Räume verschiedener Größe und mit unterschiedlichen Wandmaterialien nachbilden. Spannend wird es dadurch, dass man es genau genommen mit zwei Raumakustiken zu tun hat: erstens der virtuellen Akustik der Orgel und zweitens der realen Akustik des Raums, der beschallt werden soll. Hier bietet die C-330 umfangreiche Einstellmöglichkeiten sowohl in Bezug auf die Balance von Direktschall und Hall als auch den Orgelklang selbst.
Die Feinabstimmung des Orgelklangs erfordert viel Fachwissen und Erfahrung. Bei einer realen Orgel übernimmt der Orgelbauer diese als „Intonation“ bezeichnete Prozedur selbst, und zwar dann, wenn die Orgel bereits in ihrem endgültigen Raum steht. Da man hier auch sehr viel falsch machen kann, sind die Menüs zu Audio-Routing und Intonation im Display zunächst nicht sichtbar. Besitzer einer C-330 können bei Bedarf über ihren Fachhändler erfahren, wie sich der Zugang zu den betreffenden Parametern aktivieren lässt.
Die C-230 basiert zwar auf der gleichen Klangerzeugung, besitzt aber kein Display. Hier kann über den Fachhandel eine unter Windows lauffähige Editorsoftware angefordert werden, für die vom Hersteller allerdings kein Support geleistet wird.
Werfen wir nun also einen Blick hinter die Kulissen. Für das Audio-Routing ist ein Matrix-Mixer zuständig. Hier gibt es drei Stereo-Busse: Main, Satellite und Line-Out. Als Quellen gibt es u. a. Pedal/Manual I, Manual II, RSS Front und RSS Rear, wobei „RSS“ für den Hall der Raumsimulation steht.
Sind die grundsätzlichen Signalwege und Pegel einmal eingestellt, beginnt die Feinarbeit der Intonation. Zunächst kann man hier mit dem Parameter PRESENCE die Position eines Registers innerhalb des virtuellen Orgelgehäuses festlegen. Technisch wird dies mit einem speziellen Filter realisiert, das die Klangformung durch das Gehäuse nachbildet. Praktisch ist es dadurch möglich, eine beliebige Tiefenstaffelung der Register zu realisieren. Die Parameter WARMTH und BRILLIANCE erlauben weiteren klanglichen Feinschliff, während CHIFF / ATTACK die Stärke des Anblasgeräusches regelt. Sowohl ganze Register als auch einzelne Noten können leicht verstimmt werden, um subtile Schwebungen zu erzeugen. Lautstärke und Klang können pro Note justiert werden. Dies ist deswegen nützlich, weil die teilweise sehr grundtönigen Register der Orgel besonders im Bassbereich sehr leicht Raumresonanzen anregen. Bereits allein durch Justieren der Lautstärke jeder Note kann dies behoben und so ein homogenes Klangbild erreicht werden.
Durch Kombination von Sampling und Modelling-Algorithmen erzielt Roland einen kompromisslosen und lebendigen Klang mit detailgetreuer Nachbildung auch subtiler Effekte, wie etwa Druckschwankungen der Windversorgung. Besonders die C-330 bietet nahezu unbegrenzte Möglichkeiten für das individuelle Design einer virtuellen Orgel, von der Zusammenstellung der Disposition bis hin zu mächtigen Intonationswerkzeugen.
Die C-330 in der Gethsemane-Kirche in Nürnberg
In der Gethsemane-Kirche in Nürnberg gibt es für Main und Satellite je ein zusätzliches Lautsprecherpaar im Vorderraum. Die dafür erforderlichen Anschlüsse sind zwar nicht außen am Gerät verfügbar, das Signal kann jedoch intern abgegriffen werden. Für die Klangabstrahlung von hinten ist ein weiteres Lautsprecherpaar installiert, das über Line-Out mit der Orgel verbunden ist.
Für eine realistische Beschallung werden die Signale von Pedal und Manual I an Main geschickt. Beim zweiten Manual gibt es zwei sinnvolle Konfigurationen: Es kann entweder vorn als Oberwerk oder hinten als Rückpositiv oder Fernwerk konfiguriert werden. Für eine authentische Hallsimulation wird man die hinteren Lautsprecher in jedem Fall auch für das RSS Rear-Signal verwenden. Bei der Intonations-Session in der Gethsemane-Kirche wurden Raumresonanzen durch Justieren der Lautstärke jeder Note berücksichtigt und so ein homogenes Klangbild erzielt.
Bauarten von Orgelpfeifen
Die Register einer Orgel lassen sich in zwei Klassen einteilen, die sich in der Art der Tonerzeugung grundlegend unterscheiden. Labial – pfeifen funktionieren nach dem Prinzip einer Flöte: Die Luft strömt auf eine Kante (das sogenannte Labium) und erzeugt dadurch eine schwingende Luftsäule. Die Frequenz wird dabei von der Länge der Pfeife bestimmt. Hier haben die auch bei Synthesizern verwendeten Bezeichnungen für die Oktavlage ihren Ursprung: 8′ bedeutet z. B., dass die Pfeife für das C im Bass 8′, also etwa 2,38 Meter lang ist.
Man unterscheidet offene und gedeckte Labialpfeifen. Bei Letzteren ist die obere Öffnung verschlossen. Die Pfeife klingt dann eine Oktave tiefer als eine offene Pfeife gleicher Länge.
Es gibt eine Vielzahl von unterschiedlichen Bauformen, z. B. weite Pfeifen für grundtönigen Klang, enge Pfeifen für obertonreichen Klang. Bei Zungenpfeifen wird der Ton durch eine schwingende Metallzunge erzeugt, deren Länge die Frequenz bestimmt. Hier dient der Pfeifenkörper der Verstärkung und Formung des Klangs.
Der zweite Teil unserer Serie über das älteste Tasteninstrument stellt Ihnen Sampling-Software und einen Expander auf Basis von Physical-Modelling vor, mit denen Sie Ihr Wunschinstrument im eigenen Studio oder Musikzimmer Wirklichkeit werden lassen können.
Im ersten Teil unserer kleinen Serie über digitale Pfeifenorgeln haben wir gesehen, welche Schwierigkeiten überwunden werden müssen, um den Klang einer Orgel detailgetreu zu simulieren. Größe und Dynamikumfang des Instruments stellen höchste Anforderungen an Sampling-Technologie und Klangabstrahlung. Wir haben anhand der Orgel C-330 von Roland gezeigt, wie durch eine Kombination von Sampling und Modelling ein authentischer und lebendiger Klang erreicht werden kann. In diesem zweiten Teil widmen wir uns zwei SamplingLösungen sowie einem Expander, der auf Physical-Modelling-Technologie basiert.
Hauptwerk
Der Softwaresampler Hauptwerk der Firma Milan Digital Audio wurde speziell auf die Besonderheiten und akustischen Herausforderungen des Orgelklangs zugeschnitten. Er ermöglicht es, historische Monumente der Orgelbaukunst in all ihren Facetten im heimischen Studio zu reproduzieren. Das Programm ist sowohl für Windows als auch das Mac-OS erhältlich. Die Windows-Version bietet neben dem Standalone-Sampler auch ein VST-Plug-in; die VST-Schnittstelle für den Mac befindet sich derzeit noch in der Entwicklung.
Hauptwerk ist in drei verschiedenen Versionen mit unterschiedlichem Funktionsumfang erhältlich. Einen ersten Klangeindruck kann man sich mit der freien Version verschaffen, die allerdings auf eine Maximalgröße von 1,5 GB Sample-RAM und 16-Bit-Audio beschränkt ist. Die Basic-Edition unterstützt 3 GB Sample-RAM, was immer noch recht knapp ist. Für eine ernsthafte Beschäftigung mit Hauptwerk wird man daher kaum um die Advanced-Edition herumkommen. Diese hebt nicht nur die Beschränkungen beim Sample-RAM auf, sondern bietet darüber hinaus so wesentliche Features wie Multikanal-Wiedergabe, Windsimulation und individuelle Intonationsmöglichkeiten pro Pfeife. Ein wichtiges Feature für die Wiedergabe historischer Orgeln ist die freie Wählbarkeit des Micro-Tunings. Neben der Temperierten Stimmung finden sich bei Hauptwerk alle wesentlichen historischen Stimmungen.
Neben Milan bietet eine Reihe weiterer Hersteller Sample-Sets bedeutender Orgeln aus unterschiedlichen Stilepochen und Regionen an. Sample-Sets, die mit der Free-Version laufen, gibt es z. B. von Pipeloops (Cavaille-Coll, Silbermann), Sonus Paradisi (alle Shareware oder Freeware) und Lavender Audio (1901 James Jepson Binns, Old Independent Church, Haverhill).
Vor dem Kauf eines Sample-Sets sollte man unbedingt die Systemvoraussetzungen studieren, da die Größe der Sample-Sets nicht selten im zweistelligen Gigabyte-Bereich liegt. Ein schnelles 64-Bit-System mit mindestens 4 GB RAM ist daher Voraussetzung für die Wiedergabe größerer Instrumente. Für uneingeschränkte Wiedergabe in 24-Bit-Qualität können sogar 8 GB RAM und mehr fällig werden.
Der Speicherhunger von Hauptwerk erklärt sich durch das aufwendige Sampling mancher Sample-Sets. So werden bei einigen Instrumenten mehrfache Loops pro Note gesampelt, die dann bei der Wiedergabe in zufälliger Reihenfolge abgespielt werden. Auf diese Weise wird der Eindruck einer zufälligen Fluktuation des Klangs erreicht. Da sich der Ton sowohl in der Pfeife als auch im Raum relativ langsam aufbaut, sampelt man häufig mehrere Release-Ebenen. In der Regel werden die Releases für drei unterschiedliche Notenlängen aufgenommen: Staccato, kurze gehaltene Note, lange Note. Es ist auch möglich, mehrere Attack-Samples pro Note zu verwenden. Da Attack und Sustain jedoch bei Hauptwerk immer eine Einheit bilden, vervielfacht sich damit der Speicheraufwand. Für einige kleinere historische Orgeln mit mechanischer Traktur wurden aber tatsächlich mehrere Attack-Samples pro Note aufgenommen.
Die meisten Sample-Sets sind mit vollem Raumklang aufgenommen und vermitteln somit direkt den Klangeindruck der Orgel in der jeweiligen Kirche. Einige wenige Sets verwenden eine direktere Mikrofonierung.
Eine der Herausforderungen beim Sampeln von Pfeifenorgeln ist das dosierte Entfernen des Windrauschens. Dies gehört zwar einerseits zum Klang einer Pfeife dazu, muss aber gekonnt vom Rauschen des Windgebläses separiert werden. Neben dem Rauschen des Windgebläses kann Hauptwerk auch die durch die Luftdruckschwankungen beim Spiel verursachten Tonschwankungen simulieren. Diese Windsimulation ist übrigens aus patentrechtlichen Gründen nur in Europa verfügbar.
Das Programm stellt den kompletten Spieltisch mit sämtlichen Registerzügen grafisch dar, wobei zur bequemen Registrierung auch Touchscreens unterstützt werden. Verschiedene Anbieter verkaufen Komplettsysteme aus MIDI-Spieltisch und PC-System mit vorinstalliertem Hauptwerk. Ein Beispiel sind die maßgeschneiderten Spieltische der Firma Hoffrichter. Neben den Hauptwerk-Spieltischen bietet Hoffrichter übrigens auch Expander an, die auf eigener Sampling-Technologie basieren.
Vienna Konzerthaus Organ
Auch die Wiener Sampling-Spezialisten – Vienna Symphonic Library – haben eine große historische Orgel im Programm. Die Vienna Konzerthaus Organ läuft auf dem hauseigenen Sampler und hat daher trotz der Größe der Orgel erfreulich moderate Hardwareanforderungen. 2 GB RAM und eine Dual-Core-CPU bei etwa 2 GHz sind völlig ausreichend. Um dieses Produkt richtig einordnen zu können, sei kurz auf die Entstehungsgeschichte eingegangen.
Als die Toningenieure von Vienna Instruments im Rahmen des MIR-Projekts (Multi Impulse Response) die Akustik des Wiener Konzerthauses einfingen, konnten sie der Versuchung nicht widerstehen, auch die große Rieger-Orgel aus dem Jahr 1913 detailgetreu zu sampeln. Aufgenommen wurden dabei die Register der ersten drei Manuale und des Pedals. Aufgrund ihres Erhaltungszustands mussten Solowerk und Fernwerk unberücksichtigt bleiben. Mithilfe von MIDI-Automatisierung und der bereits für das MIR-Projekt verwendeten aufwendigen Mikrofonierung sind weit mehr als 1 Terabyte an Rohdaten entstanden, die anschließend aufwendig nachbearbeitet wurden. Als Ergebnis kann man sich nunmehr eine der größten und berühmtesten Konzertorgeln direkt ins Wohnzimmer oder Studio holen.
Der VSL-Sampler ist allerdings speziell auf die detailgetreue Reproduktion von Orchesterinstrumenten zugeschnitten, auf eine spezielle Oberfläche für die Orgel hat man verzichtet. Es können insgesamt bis zu vier verschiedene Einzelregister oder Registerkombinationen gleichzeitig aktiviert werden. Diese Einschränkung fällt in der Praxis aber kaum ins Gewicht, da sehr viele Registrierungen bereits jeweils zu einem Sound zusammengefasst verfügbar sind. Eigene Registrierungen können daher auf diesen Patches aufbauen und bis zu drei charakteristische Einzelregister hinzufügen. Man hat so genügend Spielraum für individuelle Registrierungen, benötigt aber gleichzeitig nur maximal vier Streams pro Note.
Der Klang ist lebendig und vermittelt die Illusion, direkt am Spieltisch zu sitzen. Das langsame Ansprechverhalten großer Pfeifen wird mit speziellen Release-Samples nachgebildet. Spielt man einzelne Noten staccato, so fehlt hier wie beim akustischen Vorbild der Grundton, weil die Pfeife erst auf der zweiten Harmonischen (und darüber) einschwingt. Einige Einschränkungen der getesteten Version werden mit dem neuen Sample Player Vienna Instruments PRO aufgehoben. Der neue Player erlaubt die gleichzeitige Wiedergabe von bis zu acht Patches. Auch die Simulation eines Tremulanten und variables Micro-Tuning sind mit der PRO-Version möglich.
Sample vs. Modelling
Während man beim Sampling jedes Detail mühsam einfangen muss, werden diese beim Physical-Modelling in Echtzeit zu einem Klang geformt. Die gesamte Tonerzeugung in der Pfeife wird in Echtzeit berechnet, wodurch sich – und das ist die Stärke dieser Technik – ein unvergleichlich lebendiger Klang ergibt. Wie bereits erwähnt, können an einem vollgriffigen Orgelklang schnell um die 400 Einzelstimmen beteiligt sein. Angesichts der komplexen strömungsphyikalischen Vorgänge ist es daher klar, dass nur hinreichend vereinfachte Modelle mit heutiger Hardware in Echtzeit berechnet werden können.
Der italienische Hersteller Viscount kann auf Jahrzehnte lange Erfahrung auf dem Gebiet elektronischer Sakralorgeln zurückblicken und hat mit der Patentierung der Anwendung von Physical-Modelling auf Pfeifenorgeln in den 90er-Jahren ein Projekt gestartet, an dem nach eigenen Angaben 40 Mitarbeiter beteiligt waren. Der erste kommerziell erhältliche Orgelexpander, der ganz auf Physical-Modelling basiert, ist der CM-100. Wie beim Physical-Modelling üblich, ergeben sich Details wie das Ansprechverhalten der Pfeifen automatisch aus dem verwendeten Algorithmus, der die physikalischen Eigenschaften und das Klangverhalten der Pfeifen simuliert. Spielt man etwa das Register Gedackt 16′ mit ganz kurzen Noten, so erklingen nur die Harmonischen ab der Oktave (2. Oberton). Da der Hall einfach der Tonerzeugung nachgeschaltet ist, wird auch hier die Simulation des Release automatisch korrekt wiedergegeben.
Klanglich erscheinen derzeit noch die Sampling-Lösungen dem Physical-Modelling überlegen, was nicht nur für das CM-100, sondern mehr oder weniger generell für diesen Vergleich gilt. Im Edit-Menü können zwar Lautstärke, Klangfarbe, Rauschen, Attack und Release optimiert werden, es gibt aber leider keine Möglichkeit, mit den Parametern des physikalischen Modells zu experimentieren. Die neue Unico-Produktserie von Viscount bietet aber bereits eine verbesserte Modellierung mit wesentlich mehr Einstellmöglichkeiten. Man darf also auf die weitere Entwicklung in diesem Gebiet gespannt sein.
Toller Beitrag, bitte fortsetzen!!!