Der Aufbau einer Keyboard-Burg
°MEHR, MEHR, MEHR!
Wer hat damals nicht von einer Keyboard-Burg geträumt, wie die Tastenhelden des elektronischen Klanges sie in den 70ern aufgetürmt haben? Mit engelsgleicher Pose, die Arme weit ausgestreckt, um möglichst viele Sounds gleichzeitig zu erwischen. Die mit Equipment nur so strotzenden Plattencover von Yes, Vangelis, Tangerine Dream & Co lassen einen auch heute noch in eine devote Haltung verfallen. Und doch sollte die Reise in noch unerforschte Klangwelten für die meisten von uns mit einem viel, viel kleineren Setup beginnen …
Aber selbst ein so bescheidenes Keyboard-Set aus Transistor-Orgel und Preset-Synthi war damals eine große Sache. Natürlich war der gefühlte Abstieg groß, wenn man nach dreimaligem Hören der Lieblings-LP (inklusive Wegbeamen beim Bestaunen der Plattencover) sich dann wieder an die eigenen Tasten setzte. Egal − selbst mit der peinlichsten Schweineorgel wie der auf den vorherigen Seiten gezeigten GEM Jumbo 61 (baugleich mit der VOX Jaguar) war der Grundstein zur eigenen Keyboard-Burg gelegt. Und wie zum Teufel sollte man auch nur ahnen, dass selbst die cheesyste Combo-Orgel ein halbes Jahrhundert später zum begehrten Vintage-Gadget werden kann − allein schon wegen des stylischen Designs. Je schrulliger, desto besser! So scheint’s zumindest, wenn man die aktuellen Online-Auktionen betrachtet. Sounds mit Patina. Den Vintage Keyboards sieht man das nicht nur an − sie klingen auch so. Bauteiltoleranzen verleihen diesen Instrumenten ihren individuellen Touch, wobei man oft nicht etwa von besonderen Klangnuancen sprechen kann, sondern vielmehr von Macken, Ecken und Kanten, die auf intensiven jahrzehntelangen Gebrauch zurückzuführen sind.
Ganz klar − wir sprechen von der Zeit, bevor es die großen Synthesizer oder gar erschwingliche kleine Poly-Synths gab. Polyfon war schon Luxus, auch wenn der Kippschalter-Mix aus Strings und Bassoon erst einmal durch einen − damals ebenso sündhaft teuren − Phasing-Effekt musste. Auch wenn dieser eigentlich mehr Rauschen erzeugte als alles andere − egal! Hauptsache psychedelic! So näherte man sich Schritt für Schritt dem erträumten Ziel: Megasound per Anhäufung des immer neusten Keyboarder-Equipments. Mit Tasten dran ist’s für den Tastenmann. OK, allen anderen muss man das Phänomen Keyboardburg vielleicht erklären. E-Piano, Minimoog, PPG, Jupiter-8, übereinander gestapelt wie Frikadellen Tomaten und Käse in einem monströsen Hamburger: Was bringt (halbwegs) erwachsene Männer dazu, sich auf der Bühne und im Studio mit Instrumenten im Wert einer kleinen Vorortsiedlung zu umgeben und sich im Stehen vor einer Wand aus Elektronik abzuarbeiten wie der Maschinist einer hundsgemeinen Spritzguss-Anlage − statt sich bequem auf einem Klavierhocker zu lümmeln und lässig ein paar smoothe Akkorde aus dem Ärmel des Nylonhemds perlen zu lassen? Fehlt da einfach nur eine gute Idee, sagen wir in der Art: Wohin mit dem Geld nach der fünften goldenen Schallplatte? Oder liegt es vielleicht daran, dass man nie gelernt hat, ein Instrument zu spielen, das man zur Not mit Diamanten verzieren kann? Gut, könnte man sein Rhodes zwar auch, aber da sieht sie ja keiner, unter all dem anderen Zeug. Also: ab in den Musikladen und alles mitnehmen, was man für das letzte Platten – honorar raustragen kann − sobald der Getränkehändler und der Limo-Service bezahlt sind.
Oder? Nun ja: Ganz so einfach ist das nicht. Eigentlich trifft eher das Gegenteil ins Schwarze: Unter Instrumentenbauern wurden die Kollegen, die ihr Geld mit Keyboardern verdienen müssen, lange Zeit eher bedauert − stand ihre Klientel doch immer knapp vor der Pleite. Denn Burgen zu bauen ist teuer. Trotzdem ist bisher seltsamerweise kaum jemand auf die Idee gekommen, zum Beispiel Mellotron, Synth und Klavier von verschiedenen Leuten spielen zu lassen − obwohl es grundverschiedene Instrumente sind. Sind Tasten dran, ist’s halt für den Tastenmann, so war das. Dagegen käme kaum jemand auf die Idee, einem Gitarristen eine Harfe in die Hand zu drücken, obwohl da auch Saiten zu zupfen sind. Tja Folks: So wurden wir notgedrungen zu ewig abgebrannten Multiinstrumentalisten.
Aber es wuchs ein anderes Kraut. Keyboarder, die wenigstens ab und zu mal wieder Augenkontakt mit dem Publikum aufnehmen wollten, konnten sich spätestens Anfang der 80er-Jahre die wundgespielten Hände reiben: Als sie im Store bei der Suche nach dem neusten Gimmick von der Synthesefront auf einmal auf Geräte wie Korgs Trident, Crumars Trilogy oder den ARP Omni stießen: Instrumente, die Polysynth und Stringer in einem waren und manchmal obendrein ein ganz passables Orgel-Substitut oder »Bläser« an Bord hatten (im Prinzip Sägezahn-Lieferanten mit rudimentärer Pitch-Hüllkurve). Obwohl viele dieser Multikeyboards neben ihren Vorbildern irgendwie wirkten wie ein Bodybuilder neben einem Gewichtheber: Sie sahen prima aus, waren aber in keiner Disziplin so richtig gut. Trotzdem: Endlich wie der Kollege von der Saitenzupfer-Fraktion ganze Stadiontouren mit einem einzigen abgerockten Instrument durchstehen: Wie genial, endlich!
Der Traum bleibt … Der Rest ist schnell erzählt. Ein paar Jahre drauf erklang der MIDI-Urknall, auf einmal gab es Masterkeyboards wie Yamahas KX88, die Klangerzeuger rutschten in Racks, und wir Keyboarder konnten uns endlich wieder auf eine, dann aber gute Mehrzonen-Tastatur konzentrieren. Den Tanz von Instrument zu Instrument delegierten wir an die Keytechniker, die vor den Soundmodulen hinter der Bühne inständig beteten, dass niemand über ein Kabel fiel. Ende der 80er hatte sogar dies ein Ende: Die Sampler kamen auf, und 1988 wurde der Menschheit gar die M1 geschenkt: das Instrument, das die Ära der Workstations einläutete, die heute von Kronos, Fantom, Motif & Co ihre Krone aufgesetzt bekommt: Keyboards, die endlich alles können. Jetzt aber wirklich.
Aber der Traum von der eigenen Burg, der ist geblieben. Und Vintage Keyboards − ob Fender Rhodes, Wurlitzer, Yamaha CP70/80 oder Mellotron, String Machines & Co − werden auch heute wegen ihres individuellen Klangcharakters noch immer geschätzt und geliebt. Welches die wichtigsten Sounds sind und was man über die Instrumente wissen muss, verrät unser Special »Vintage Keyboards«.