AtomTM und sein Studio: Interview mit Uwe Schmidt
Festplatten sind wie geräumige Vorratskammern. Fünf Jahrhunderte Musikgeschichte lassen sich dort ebenso leicht archivieren und recyceln wie jeder Produktionsschritt des eigenen Œuvres — grenzenlose Freiheit oder vollkommene Überforderung? Uwe Schmidt, am bekanntesten unter seinen Alter Egos „Senor Coconut“ und „AtomTM“ spricht über den kreativen Umgang mit lückenloser Verfügbarkeit, wandelbare Wahrnehmung und verrät fast nebenbei einige höchst bemerkenswerte Produktions- und Sounddesign-Tricks für seinen aktuellen Longplayer HD.
Wir treffen den in Santiago de Chile beheimateten Uwe Schmidt am Rande des diesjährigen Berliner Kunst- und Medienfestival „Club Transmediale“, bei dem er zwei Auftritte bestreitet.
№2/3 2017
- Editorial
- Facts & Storys
- Modular Kolumne
- Mit Mark Forster auf Tour
- MANDO DIAO IM INTERVIEW
- Amy Lives: Xanthoné Blacq
- Ströme− Eurorack Clubbing
- MARIO HAMMER & THE LONELY ROBOT
- Peter Pichler: Bewahrer des Trautoniums
- NONLINEAR LABS C15
- AKAI MPC LIVE
- GIPFELSTÜRMER: NOVATION PEAK
- Auf Lichtung gesichtet: Bigfoot
- Gute Vibes im Museum
- DIE HOHNER-STORY
- Transkription − Chuck Leavell: Song For Amy
- Impressum
- Inserenten, Händler
- Das Letzte − Kolumne
Was war der thematische Gedanke hinter HD?
Eine Problematik, die mich in den letzten Jahren sehr beschäftigt hat, ist die derzeitige Omnipräsenz von letztlich aller Musik und die ständigen, äußerst kurzfristig auftauchenden Trends. Einige definieren diese Situation als Krise – wo soll es hingehen, was kann man noch Neues machen? Die Musikindustrie fühlt sich überfordert, weil neue Trends oder Hypes zu wenig fassbar und für ein breites Marketing zu kurzlebig sind.
Ich bin jedoch ein eher positiv denkender Mensch und stelle fest, dass diese „Krise“ eigentlich die totale Freiheit bedeutet: Man ist nicht mehr an Formate gebunden, man kann einzelne Titel schreiben und diese ebenso gut auf Soundcloud hochladen wie ein komplettes Album.
Wenn ich komponiere, arbeite ich meist mit Erinnerungen, die für mich mit einzelnen Samples verknüpft sind, welche sich wiederum auf meiner, für das Album titelgebenden Festplatte befinden. Ich verwende die Samples als Zitate – wie ja auch Senor-Coconut-Songs ausschließlich aus Zitaten bestehen – und stelle nun fest, dass für viele, meist jüngere Hörer diese Verbindung in die Vergangenheit gar nicht existiert, mein Zitat also gar nicht als Zitat wahrgenommen wird. Du kennst z. B. die Rock-It-Toms (in I Love U) und erkennst sie somit als Zitat. Für meine 15- jährige Tochter existiert dieser Zusammenhang jedoch nicht.
Man bewegt sich als Künstler also zunehmend in einem referenzfreien Raum, was wiederum eine neue Form der künstlerischen Freiheit bedeutet.
Reproduzierte Stimmen
Die verfremdeten Stimmen auf HD sind auf höchst interessante Weise entstanden: Das titelgebende Wort „Strom“ wurde zunächst eingesprochen und Pitch-korrigiert (mit dem Waves’s Vox-Plug-in). Durch diese Synthetisierung vereinfacht sich die Wellenform des Wortes, was die weitere Bearbeitung begünstigt. „Strom“ wurde nun in seine einzelne Laute („Schh”, „T”, „Rrrr”, Ohh” und „Mmm”) zerschnitten, und diese wurden durch Loopen in die Länge gezogen.
Nun wurde analysiert, welcher Grundwellenform die einzelnen Laute am nächsten kommen. Mit Analoggeräten (Roland SH-5) wurden diese Laute nun so ähnlich und einfach wie möglich imitiert. Die Originalstimme und die synthetische Reproduktion wurden im Track überblendet und Letztere zusätzlich als Drum-Instrument eingesetzt. Ein Vocoder arbeitet zwar ähnlich, das klangliche Ergebnis ist jedoch deutlich anderes.
Was bedeutet diese Entwicklung für deine künstlerische Arbeit?
In der Playlist meiner Tochter finden sich Frank Sinatra, Blondie, Die Antwort, Black Eyed Peas – alles beieinander. Sie hat jedoch kaum Wissen über den historischen Zusammenhang und nimmt deshalb Musik ganz anders wahr als du und ich. Anstatt diese Entwicklung nun als Verfall zu betrachten, sage ich mir: „Fantastisch!“ Du kannst das historische Puzzle der letzten 500 Jahre nach Belieben für dich nutzten. Für dich, für mich und für ein paar Spezialisten funktioniert es als Zitat, für den Großteil der aktuellen Hörerschaft funktioniert der Zugang jedoch ganz anders – sie empfindet die Musik losgelöst von jeglichem historischen Überbau. Für sie ist es neu und ganz schlicht „interessant“ oder „uninteressant“.
Dementsprechend erscheint mir die aktuelle Phase als musikalisch sehr spannend. Das gilt umgekehrt auch für die Technologie: Für mich ist beispielsweise die Linndrum kein historisches Instrument oder „retro“. Einerseits, weil man sie heute ganz anders aufnehmen kann als vor 30 Jahren, andererseits ist das einfach ein gut klingendes Instrument, so wie eine Gibson-Gitarre. Ich kann meine Ideen damit optimal und schnell umsetzen.
Wie komponierst du deine Titel?
Das kann sehr unterschiedlich verlaufen. Die Idee zu Strom kam bei einem Festival in Japan. Der Sound dort war so gut, dass man die Wellenformen richtiggehend gesehen hat – Musik aus Strom! Das gab den Startpunkt für einen Titel, der genau diese Empfindung hörbar machen und extrem „elektrisch“ klingen sollte. Das Wort „Strom“ sollte im Mittelpunkt stehen.
Womit wir über dein außerordentliches Sounddesign sprechen sollten.
Das Wort „Strom“ habe ich in seine einzelnen Laute zerlegt, die Rauschanteile und Wellenformen synthetisiert und zu Drum-Sounds geformt (s. Kasten). Der Rhythmus dazu sollte extrem elektronisch klingen – britzeln, knistern und den Hörer sofort an Strom denken lassen. Das hat so gut funktioniert, dass das Stück in drei Tagen fertig war.
Andere Stücke sind ganz anders entstanden. Pop HD war zunächst ein Jam mit meiner Linn 9000, bei dem ich verschiedene Sachen gesampelt und ausprobiert habe. Der Jam ist dann erst einmal auf der Festplatte gelandet und wurde später, zusammen mit den Vocals, zu Pop HD.
„Ich mag keine Studio-Ästhetik.“ Uwes Studiozimmer unterscheidet sich deutlich sichtbar von der üblichen Produktionsstätten-Ästhetik. „Ich wollte einen Raum, in dem ich mich wohlfühle und der darüber hinaus als Studio funktioniert.“ Die zahlreichen Vintage-Instrumente (auch Drumcomputer) spielt Uwe meist ohne MIDI oder interne Sequenzer von Hand direkt in Pro Tools ein.
Wie ist My Generation entstanden? Hast du dabei mit Samples gearbeitet?
Nein, Samples gibt’s da keine. Vor acht Jahren sollte etwas Rockiges entstehen. Damals habe ich mit einem Freund Gitarren und Schlagzeug aufgenommen. Dann wurden einzelne Schläge herausgeschnitten und geloopt. Das klang schon ziemlich mechanisch. Um es noch mechanischer zu machen, habe ich die Schläge gekürzt, in die Länge gezogen und in Pro Tools mit Hüllkurven bearbeitet – ein ziemliches Gefriemel.
Über die Jahre habe ich mir das Ergebnis immer wieder mal angehört, fand es aber nach wie vor nicht synthetisch genug. Ich habe es dann immer mehr zerschnitten, um es noch mechanischer klingen zu lassen. Dann wurden Bass und Drums neu programmiert und schließlich blieben nur noch diese gestretchten Gitarren übrig. Die Vocals sind meine eigene Stimme, allerdings habe ich alles wortweise eingesungen, danach wiederum geschnitten, gestretcht, mit Effekten (Distortion) bearbeitet usw.
Nutzt du Vocoder?
Gelegentlich den Vocoder des Roland V-Synth, außerdem ein Plug-in namens Bit-Speak. Das macht schöne 8-Bit-Zerstörungen, die ich mit der Originalstimme mische.
Stotter-Effekte entstehen bei dir wie?
Durch Zerschneiden von Audiofiles. Plug-ins verwende ich dazu nicht. Ich will so direkt wie möglich mit der Wellenform arbeiten. Der technische Ansatz bei diesem Album war der Umgang mit Wellenformen, die auf einer Festplatte liegen und bis in den Sample- Bereich bearbeitet werden. Quintessenz war auch immer die Reduktion auf essenzielle Bausteine der elektronischen Musik – sowohl im Arrangement als auch bei der Klanggestaltung. Was für ein Element oder Instrument fehlt? Es geht dabei jedoch nicht um Minimalismus, sondern um die Beschränkung der Mittel für einen bestimmten Zweck. Effizienz ist wohl das passende Wort. Nehmen wir etwa Prince’ When Doves Cry – da passiert nicht viel, aber alles ist genaustens auf dem Punkt.
Wie hat sich der Mix gestaltet?
Ich mische meist denjenigen Titel zuerst, von dem ich glaube, dass er am schwierigsten laut zu bekommen ist – und dann immer noch gut klingt. Alle anderen Mixe orientiere ich daran.
Ich mache zunächst einen Pre-Mix in Pro Tools. Da ist soweit alles drin, und die Lautstärkeverhältnisse stimmen weitgehend. Diesen Mix schicke ich über meine Neve Portico-Kanalzug-Kette. Da kommt dann etwas EQ, softe Summenkompression und zum Schluss noch ein dezenter SSL-Limiter drauf, welcher die Spitzen abschneidet. Dabei höre ich sehr genau, wo im Mix noch Fehler stecken und behebe diese wiederum in Pro Tools. Dieses Optimieren beschränkt sich meist auf Pegel und Panning und ggf. ein wenig EQ. Die Pro-Tools-EQs verwende ich fast ausschließlich zum Absenken, analoge EQs zum Anheben.
Den Klang von EQ- und vor allem Kompressor-Plug-ins empfinde ich mittlerweile als recht fragwürdig. Der Klang zerfasert irgendwie – ein Phänomen, dass sich bei Rockmusik wahrscheinlich weniger auswirkt. Bei Musik, die streckenweise mit nur einem einzigen Sound arbeitet – wie etwa Strom – erscheint mir dieser Effekt sehr störend. Ich beschränke mich also möglichst auf Effekt- und Instrumenten-Plug-ins.
Riding the Void war interessant zu mischen: Dieser Titel besteht fast nur aus Bässen, die alle ihren eigenen Frequenzbereich haben und sich über Sidechain-Kompressoren gegenseitig weg-ducken. Beim Vergleich mit den anderen Titeln stellte ich fest, dass Void um 12 dB zu leise war. Was nun? Die Grenzen der Physik? Ich habe mir den Mix dann genau angesehen und Kick und Snare so laut gemacht, dass der SSL-Kompressor in der Summe den Rest komplett zusammengedrückt hat. Mit der passenden Parametereinstellung und zusammen mit den restlichen Kompressoren in den Spuren bekam der Sound eine gewisse Organik. Die Wellenform war zwar total plattgedrückt, aber es klang überraschenderweise gut. Ein paar wenige Pegelspitzen, die übrig geblieben sind, habe ich mit Pro Tools herausgerechnet.
Arrangement, Mix und Mastering sind also bei mir ein nicht vollständig trennbarer Prozess.
Uwe Schmidt
Uwe Schmidt zählt zu den produktivsten Elektronik-Künstlern überhaupt. Seit seinem Debüt in den späten 80er-Jahren hat der gebürtige Frankfurter unter mindestens 30 Pseudonymen fast jedes Genre der elektronischen Musik mit neuem innovativem Input bereichert. Die Bandbreite reicht von seinem bekanntesten und erfolgreichsten Alter-Ego „Senor Coconut“ mit den mittlerweile legendären Kraftwerk-Adaptionen im Latin-Gewand über Dancefloor-Produktionen unterschiedlichster Couleur bis hin zu experimentellen Klangkollagen als Atom-TM. Die Werke des Wahl-Chilenen erscheinen auf ebenso unterschiedlichen wie renommierten Labels wie Mille Plateau, Rather Interesting und – aktuell – Carsten Nikolais Raster Noton.