Soundwechsel mit dem Schraubenzieher: das Mellotron
Eines der kuriosesten Instrumente, das die Elektronik je hervorgebracht hat, ist das Mellotron. Ja, es ist tatsächlich wahr: Mal eben einen Akropolis-breiten Chor unter eine Hochglanzproduktion zu legen ging auch ohne Sampler − die wurden ja auch erst in den 80ern erfunden. Bis dahin erledigte man den Job mit Tonbändern, deren Tonköpfe man clever mit einer Tastatur koppelte.
Voilá: M300 (1968) und das M400 (1970) mit 35 (!) Tasten. Aber die Kisten waren schwer wie die Freundin des Drummers, für den schnellen Soundwechsel musste man Rahmen voller Tonbänder ab- und anflanschen, und anstatt audiophilen 24-Bit-Wohlklangs eierten sie ihre rauchigen Flöten, Streicher, Chöre und ja, auch Klavier-Sounds (!) zuweilen herunter, dass es ein Grauen war − Mellotron-Sounds sind wie Horrorfilme aus den frühen 70er-Jahren: Man weiß, dass es gruselig sein soll, aber …
Trotzdem reichen heute zwei Akkorde auf einer digitalen Emulation, um an einem rosa Abendhimmel die Venus aufgehen zu lassen: Sounds können ganze Generationen prägen, und wer zu einem Mellotron-Sound keine Geschichte erzählen kann, ist wahrscheinlich Mr. Spock oder Hannibal Lecter. Und, ehrlich gesagt, haben wir uns damals eben doch vor der Nacht der leitenden Reichen gefürchtet … Man nimmt eben, was man kriegt.
Und nicht unwesentlich in puncto Keyboard-Burg: Das Mellotron gehörte technisch gesehen zur Bodencrew, denn die Bauweise erlaubte es, dass es locker noch ein, zwei, drei Keyboards Huckepack nehmen konnte.
Von damals bis heute
Das Mellotron kam 1963 heraus und konnte sich etwa 15 Jahre erfolgreich − vor allem mit dem berühmten Modell M400 − auf dem Markt behaupten, um dann in tiefster Versenkung zu verschwinden. Zunächst, denn obwohl vielfach bequemere Geräte wie polyfone Synthesizer und Sampler es in den 80ern abgelöst hatten, griff man ab Mitte der 90er wieder verstärkt zum Mellotron, zumal man sich klangästhetisch in der Gegend von Produktionen der 60er- und 70er-Jahre positionieren wollte.
In der Zwischenzeit hatte die alte Herstellerfirma Streetly Electronics längst Konkurs angemeldet, wobei der Name »Mellotron« bereits vorher durch eine kurze Liason mit einer US-amerikanischen Vertriebsfirma abgetreten wurde.
John Bradley, Sohn von Mellotron-Mitentwickler Les Bradley, und Martin Smith haben seitdem als »Mellotron Archives UK« über die Jahre immer gut zu tun gehabt, jenen Exemplaren, die sich noch im Besitz von Musikergrößen wie Paul McCartney oder Robert Fripp und natürlich vielen weiteren Liebhabern befanden, eine Frischzellenkur zu verpassen oder sie gegebenenfalls einem neuen Besitzer zuzuführen.
Dass es die Company mit Namen »Mellotron« heute wieder gibt, ist auf eine fast parallel stattfindende Entwicklung zurückzuführen − die Spur führt diesmal über Los Angeles nach Stockholm: Wenige Jahre nach der Geschäftsaufgabe von Streetly (1989) kaufte der Kanadier David Kean (damals Kurator der Audities-Stiftung in Calgary) sämtliche Restbestände aus der englischen Konkursmasse von Streetly Electronics und der amerikanischen Mellotron Digital auf: Bauteile, Tapeframes, Motoren, Ersatzteile sowie neben den originalen Überspielbändern und ursprünglichen Studioaufnahmen der Instrumente (inklusive der Chamberlin-Sounds) auch die weltweiten Rechte am Namen »Mellotron«.
Markus Resch aus Stockholm, der bis zu diesem Zeitpunkt mit der Restaurierung von Mellotrons bestens vertraut war, wurde so auf David Kean aufmerksam. Denn um neue Tapeframes herzustellen, benötigte er Aufnahmematerial. David Kean hingegen interessierte eine von Markus Resch entwickelte neue Gleichlaufsteuerung zur Stabilisierung des Antriebsmotors. So entstand eine intensive Zusammenarbeit, die in die gemeinsame Entwicklung eines völlig neuen Mellotrons münden sollte. Das Mark VI, das 1999 auf den Markt kam, ist komplett analog aufgebaut: Es basiert wie das alte M400 auf Tapeframes, bietet aber entscheidende Detailverbesserungen, weshalb es auch sogleich von vielen Musikern und Produzenten mit weit geöffneten Studiotüren empfangen wurde. Das Instrument klingt deutlich besser und ist auf zahlreichen Produktionen zu hören.
Zurück nach England
Nachdem auch die Nachfrage nach Bandrahmen wieder angezogen hatte, entschlossen sich Bradley und Smith vor einigen Jahren dann zur Entwicklung und Veröffentlichung des neuen Modells M4000, einer Art »Best of«-Modell, das Eigenschaften verschiedener Mellotron-Typen in sich vereint. Zwischenzeitlich wurde auch der alte Firmenname Streetly Electronics wieder angenommen. Ein weiteres Lebenszeichen von Streetly Electronics dokumentiert die Library »The Streetly Tapes« für das Software-Instrument M-Tron von G-Force.
Mit dem Term »M4000« wird übrigens die Verwirrung komplett, denn das analoge Streetly-Instrument sollte man nicht verwechseln mit dem digitalen Mellotron M4000D, das die Mellotron-Company (Los Angeles − Stockholm) bereits 2010 auf den Markt brachte.
Das digitale Mellotron
Trotz der Beliebtheit des Mark VI äußerten doch viele Musiker den Wunsch nach einem handlicheren Instrument. Markus Resch entwickelte daher das M4000D. Dank Digitaltechnik ist es platzsparend gebaut, verzichtet aber nicht auf das komfortable Spielgefühl einer Holztastatur − ganz wie beim Mark VI. Außerdem sind Design und Farbgebung des Gehäuses eine gelungene Reminiszenz an das weiße M400 von damals.
Nicht ganz ohne Stolz weiß Markus Resch von einer Reihe prominenter M4000D-User zu berichten, die das Instrument auf Albumproduktionen und Live-Tourneen dabei haben, darunter z. B. Foo Fighters, Red Hot Chili Peppers, Smashing Pumpkins, Wilco, Incubus, Queens of the Stone Age, Eels, Jackson Browne, Bruno Mars, Gotye u.v.a.m.
Sahneteil
Schon beim Einschalten wird man vom beleuchteten Mellotron-Schriftzug auf dem linken Panel begrüßt, darüber zwei Displays mit gestochen scharfer Farbgrafik − das M4000D ist ein echter Hingucker für Bühne und Studio. Aber auch klanglich kommt man auf seine Kosten. Die Sampling-Engine verarbeitet ihre Audiodaten mit 24 Bit und liefert lupenreine Qualität − so sauber hat sicher nicht einmal das beste M400-Exemplar geklungen. Dabei klingt das M4000D aber kein bisschen weniger authentisch − ohne Loops übrigens: Wie beim alten Vorbild reißt der Ton nach ca. 8 Sekunden Haltezeit ab.
Die Soundauswahl − sie stammt, wie oben erwähnt, aus den originalen Aufnahmen von damals − berücksichtigt gleich mehrere Mellotron-Modelle wie eben M300, M400 und das legendäre MK II, aber auch Klänge aus der Chamberlin-Library. Ohne umständliche Frame-Wechsel stehen so bis zu 100 Klänge spielbereit zur Verfügung, weitere Sounds lassen sich per Speicherkarte nachfüllen.
Das authentische Spielgefühl des Instruments ist nicht allein auf die speziell zugeschnittene Holzklaviatur zurückzuführen, sondern auch auf die polyfone Aftertouch-Funktion. Bei diesem Instrument ist das nicht nur einfach ein Ausstattungsmerkmal, sondern essenziell für das authentische Spielen der Mellotron-Sounds. Beim originalen Instrument hat die Andruckstärke des Tonbandes auf den Tonabnehmer nämlich Einfluss auf die Lautstärke, sodass sich einzelne Töne in Akkorden hervorheben lassen. Das gelingt beim M4000D auch. Großartig!
Auch die weitere Ausstattung mit vergoldeten XLR- und Klinkenanschlüssen unterstreichen den professionellen Ansatz des Instruments, das ohne Frage höchsten Musikeransprüchen gerecht wird und die Herzen von Vintage-Liebhabern glücklich macht. Ein Top-Instrument, das auch einen entsprechenden Preis hat (ca. 3.000,− Euro). Wer bereit ist, beim Spielkomfort − also Holztasten und polyfoner Aftertouch − Abstriche zu machen, kann sich für das kleinere M4000D Mini (ca. 2.000,− Euro) oder das M4000 Rack (ca. 1.700,− Euro) entscheiden.
Einziger Kritikpunkt: Es wäre sicher kein großer Aufwand gewesen, an der Unterseite Gummifüße anzubringen, um dem guten Stück seine gebührende Standfestigkeit zu geben.