Philips Philicorda (*1963)
Wer das Glück hatte, einen der furiosen Auftritte der englischen Band ADD N To (X) mitzuerleben, dem wird neben all dem übrigen Vintage-Equipment auch eine kompakte Orgel im Holzdesign aufgefallen sein, die von den Musikern heftigst malträtiert wurde: eine Philicorda, die eigentlich eher für den Heimeinsatz gedacht war.
Außer von Add N To (X) wurden PhilicordaOrgeln auch von vielen Beatbands wie z. B. Los Banditos oder Acts wie Paula, The Pipettes, The Soundtracks Of Our Lives, Locas In Love oder Daisycutter eingesetzt. Auch der Kabarettist Hans Dieter Hüsch benutzte die holländische Kultorgel. Die Philicorda gehört in Europa mit Sicherheit zu den populärsten Orgeln der Sechziger- und Siebzigerjahre. Der in Eindhoven ansässige holländische Philips-Konzern, der mit elektrischen Haushaltsgeräten bekannt wurde, fertigte ursprünglich Glühbirnen. Die erste Philips-Orgel wurde 1961 gebaut; das einmanualige Gerät besitzt drei Register und hört auf den Namen AG 7400. Es besaß schon den Philicorda-typischen EinTasten-Akkord-Modus, den später viele andere Firmen von Philips übernommen haben.
Klangbeispiel
Die Philicorda-Serie kam ab 1963 auf den Markt. Das erste Modell hat die Bezeichnung AG 7500 und arbeitet mit einer Röhrenklangerzeugung sowie Glimmlampenteilern. Es besitzt im Ständer integrierte Röhrenverstärker und Lautsprecher sowie einen Federhall. Für die Serie charakteristisch sind die vieroktavige Tastatur und das eckige, aber nicht unelegante Holzgehäuse. Das Bedienpanel ist mit einem Vibratoschalter, drei Fußlagen- und fünf Registerschaltern bestückt. Außerdem gibt es noch vier runde Bedienelemente, die als Regler für Lautstärke und Balance sowie als Schalter für Manual und Soundkombinationen dienen. Die Nachfolgemodelle GM 751 und 752 ähneln äußerlich dem Vorgänger, arbeiten aber bereits mit einer Transistorklangerzeugung. Die Basis dieser Klangerzeugung sind Hartley-Oszillatoren, deren Sinussignal mit Hilfe verschiedener Schaltungen (Clipper und Frequenzteiler) zu einer treppenförmigen Wellenform, die an einen Sägezahn erinnert, umgeformt wird. Die Orgeln besitzen einen eingebauten Federhall, und die Bedienelemente wurden um einen Regler für das Vibrato und den Hall ergänzt. Beide Modelle unterscheiden sich vor allem durch unterschiedliche Schaltungsdesigns (mit/ ohne Röhren) der Vor- und Endstufen und der Filter Modell GM 754
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Ein zeitgemäßes, Beatband-affines Combo Orgel-Design verpasste man dem Modell GM 753, das in blauer oder schwarzer Vinyloberfläche und schickem Ständerwerk daherkommt und mit einem kofferartigen Case geliefert wurde; diese Version war für den Livemusiker gedacht und ist sehr transportabel. Auf die interne Endstufe und den Speaker hat man bei dieser Version auch verzichtet, was sie zum Leichtgewicht unter den Philicordas macht.
Modell GM 754
Unser Testmodell, die Philicorda 754 stammt aus den frühen Siebzigerjahren und kostete anfangs 1.390 Mark. Sie hat zwar noch das eckige Holzgehäuse mit gemütlich anmutendem Nussbaumfurnier (Breite 76 cm, Höhe 80 cm, Tiefe 54 cm), aber ein etwas anderes Panel-Design als die Vorgänger: Statt der Drehregler gibt es jetzt vier waagerecht angebrachte Fader (für Hall- und Vibrato-Intensität sowie Balance), und die Drehschalter wurden durch zusätzliche Kippschalter in der Registersektion ersetzt. Der Funktionsumfang ist aber gleich geblieben: Sie ist wie die Vorläufer dreichörig (8’/4’/2′), verfügt über fünf Register (Vox I bis Vox V) und bietet Federhall und Vibrato.
Das Manual kann gesplittet werden, sodass im unteren Teil der Tastatur ein Basssound verfügbar ist. Das Lautstärkeverhältnis zwischen oberem und unterem Split-Bereich wird mit dem BalanceRegler eingestellt. Die Einfinger-Akkord-Funktion ist (wie bei allen Philicordas) natürlich auch implementiert. Folgende Akkorde lassen sich mit einer Taste im unteren Tastaturbereich bequem abrufen: C – A7 – Dm – Eb – Em – F – D – G – E7 – Am – B – G7 – Cm – H9 – Gm – F7 – C7. Der Sound der GM 754 unterscheidet sich geringfügig von dem der früheren Modelle und ist einen Tick spitzer und weniger rund. Die Transistorklangerzeugung wurde mit anderen Bauteilen als bei den Vorgängermodellen bestückt.
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Die Anschlüsse des Instruments befinden sich (ebenso wie die eingebauten Lautsprecher) an der Unterseite der Orgel, ein Umstand, der wohl dem wohnzimmerkompatiblen Design anzurechnen ist und der nicht wenige Kreuzschmerzen unter Philicorda-Besitzern verursacht haben dürfte. Alle Anschlüsse sind als DIN-Buchsen ausgeführt, und teilweise wird die Funktion durch die Symbole nicht sofort ersichtlich. Die Orgel besitzt Buchsen für Fußschweller, Verstärkerausgang, Lautsprecherausgang, Kopfhörer, externe Signale, Leslie und die Fernsteuerung eines Kassettenrecorders. Mit Letzterem konnte man die Recording-Funktion eines firmeneigenen Recorders über den Taster am Frontpanel der Orgel betätigen, um ohne Umwege Gelungenes zu verewigen.
Die Firma Philips gehörte übrigens zu den ersten Firmen, die tragbare Kassettenrecorder auf den Markt brachten. Philips baute in den Siebzigerjahren auch zweimanualige Philicorda-Modelle wie die GM 760 und die GM 762 von 1972. Letztere verfügte über einen eingebauten Kassettenrecorder. Diesen Modellen war jedoch ebenso wenig Erfolg beschieden wie den Orgeln der Philicorda-Rhythm-Reihe Ende der Siebziger. Eine schöne Website zu den einzelnen Philicorda-Modellen mit Details zur Elektronik findet man hier.
Sound
Ihr eigentümlicher, etwas spaciger Klang erzeugt sofort eine dichte Atmosphäre. Sie kann gleichzeitig sehr cheesy und ziemlich psychedelisch klingen. Ihr silbriges und weiches, aber durchsetzungsfähiges Timbre ist sehr eigen und unterscheidet sich von anderen aggressiveren Orgeln wie z. B. den Vox-Modellen. Die frühen Philicorda-Modelle mit röhrenbasierter Klangerzeugung klingen etwas wärmer, die späteren Transistormodelle ein wenig kühler und weniger breit.
Der Sound differiert etwas von Modell zu Modell und ist natürlich auch von der Art der internen Verstärkung abhängig. So gibt es z. B. die GM 753 sowohl mit Transistor- als auch mit Röhrenvorverstärker, was den Klang nicht unwesentlich beeinflusst. Die Firma Precisionsound (www.store.precision sound.net/philicordainfo.php) hat übrigens für alle, die die Vintage-Sounds lieber platzsparend als Datei im Computer haben möchten, ein Philicorda-GM-751-Soundset im Kontakt-, Halionund Soundfont-Format für moderate 29 Dollar (Download) herausgebracht.
Philicorda-Orgeln sind momentan noch günstig zu bekommen, da sie sehr verbreitet waren. Insbesondere in Holland (manchmal auch in Belgien) sind sie auf Flohmärkten oder via Internetbörsen zu moderaten Preisen zu bekommen. Ein Holland-Urlaub kann sich für den VintageFan also in mehrfacher Hinsicht lohnen.