Das Mega-Mellotron
Ist es nicht merkwürdig, dass in der modernen Musikwelt voller technischer Innovationen und sich überschlagender digitaler Emulationen analoger Instrumente ausgerechnet das alte Mellotron sich mit seinen aus den 60ern stammenden Tonbandsamples immer noch größter Beliebtheit erfreut?
Es liegt wohl am unverwechselbaren, oft wehmütigen Klangcharakter dieses Ursamplers sowie an den Erinnerungen und Emotionen, die jeder, der ihn einmal gehört hat, mit einem der zigtausend mellotrongeschwängerten Songs, nicht wenige davon Superhits, verbindet. Als vor fast 45 Jahren das erste Mellotron Mk I für 1.000 Pfund Sterling in England erschien, rechnete niemand, am wenigsten seine Birminghamer Konstrukteure, die drei Bradley-Brüder, damit, dass diese „Super-Tonbandheimorgel“ einmal so berühmt werden würde. Als erste analoge Sampler der Geschichte begeistern bis heute die verschiedenen Mellotron-Modelle unzählige Musiker wie z. B. Klaus Doldinger oder Jean Michel Jarre sowie Bands wie Aerosmith, Pink Floyd, Led Zeppelin, Rolling Stones, Anglagard, Yes, Genesis oder Utopia.
Als mit der „digitalen Revolution“ in den 80ern der Stern des Mellotrons zu sinken begann, schien auch seine Technik hoffnungslos veraltet zu sein: Auf Band aufgenommene Originalinstrumente, wie z. B. Streicher, Bläser oder Flö- ten, wurden per Tastendruck für maximal acht Sekunden von Tonköpfen wiedergegeben. Insbesondere der schwedischen Mellotron-Company ist es zu verdanken, dass es seit den frühen 90ern wieder Tonbänder, Ersatzteile und sogar neue Geräte, wie das dem M 400 nachempfundene und verbesserte Mellotron Mk VI und das doppelmanualige Mk VII hergestellt werden.
Das Imperium schlägt zurück
Bedingt durch den 1986 erfolgten Konkurs der ursprünglichen Herstellerfirma Streetly Electronics ist die Mellotron-Gemeinde heute leider in zwei Lager gespalten. So konkurrieren der amerikanische Mellotron-Namensinhaber David Kean und sein schwedischer Teilhaber Markus Resch genauso um das Mellotron-Erbe wie die wieder als Streetly Electronics agierende Firma unter Leitung von Les Bradleys Sohn John und seinem Geschäftspartner Martin Smith – den sogenannten Tron Brothers (www.mellotronics.com). Deren jüngster Geniestreich, das Streetly M 4000, darf sich aus rechtlichen Gründen zwar nicht mehr Mellotron nennen, doch das M im Namen und die folgende Zahl verdeutlichen, in welcher Tradition das Gerät steht. Es sieht tatsächlich dem erfolgreichsten Mellotron, dem „kleinen“ M 400, trotz geringfügig größerer Maße zum Verwechseln ähnlich, ist diesem aber in vielen Punkten, was Technik, Bespielbarkeit und vor allem Variabilität angeht, weit überlegen.
Die Tron Brothers verstehen ihr M 4000 jedoch eher als Hommage an das alte Mk II. In beiden Geräten sorgen auf Knopfdruck zwei motorbetriebene Bandwickelwalzen dafür, dass die acht (Mk II sechs) hintereinanderliegenden Soundstationen auf den (pro Taste) etwa 20 Meter langen 3/8″-Dreispurtonbändern (Mk II ca. 14 Meter) exakt angefahren werden. Bot das Mk II insgesamt 18 Sounds (6 Stationen × 3 Spuren = 18 Sounds), dann stellt jetzt das M 4000 mit seinen acht Stationen und den daraus resultierenden 24 Sounds sein Vorbild und alle anderen Trons weit in den Schatten. Rechnet man pro Station noch die sich aus der Mischung benachbarter Spuren ergebenden Mixsounds hinzu (A, AB, B, BC, C), dann kommt Streetlys Tron auf stolze 40 polyfon spielbare Sounds, was beim M 400 acht Bandrahmen entspräche.
What’s new, Tron Bros?
Zur Bedienung des M 4000 stehen neben den vom M 400 bekannten Drehreglern Volumen, Klangregler, Pitch (ca. ±3 Töne) und Spuranwahl jetzt auch vier Knöpfe inkl. zweistelligem grü- nen Display für die Stationsanwahl (z. B. von 1 nach 2, 2 nach 5, aber auch von 6 nach 4) sowie weitere neue, interessante Sonderfunktionen zur Verfügung.
So lässt sich nun pro Station der exakte Startpunkt der Bandaufnahmen für einen direkteren, aggressiveren Anschlag schrittweise nach hinten verlegen und sicher abspeichern. Gerade dieses Feature und die Möglichkeit, jederzeit wieder zurück zum Original schalten zu können, standen schon seit Jahrzehnten auf der Wunschliste vieler Mellotron-User, denen die natürlichen Attack-Phasen der aufgenommenen Instrumente oft zu weich erschienen.
Ferner bietet das Gerät einen Diagnose-Modus, der bei eventuell auftretenden Störungen per Displayanzeige hilft, den Fehler genau zu lokalisieren und ggf. durch Rekalibrieren schnell zu beheben. Drückt man während der Stationsanwahl versehentlich eine Keyboardtaste, was bei manchem älteren Tron zu argem Bandsalat führen kann, unterbricht jetzt eine optische Kontrolle unter dem Keyboard sofort den Spulvorgang und setzt das M 4000 automatisch auf die erste Station zurück, damit man erneut die einzelnen Stationen sicher anwählen kann. Eine computergesteuerte automatische Endabschaltung des Wickelmotors nach Erreichen der Stationen 1 und 8 sorgt zudem für weitere Sicherheit beim Umspulen. Sollte das M 4000 während des Betriebs einmal durch einen totalen Stromausfall unsanft ausgeschaltet worden sein, lassen sich mit Hilfe der vier Knöpfe und des Displays neben den eigenen auch die Werkseinstellungen schnell wieder hochladen.
Bei schwülwarmem Wetter oder auf heißen, eingenebelten Bühnen konnte es bei älteren Mellotrons leicht passieren, dass sich im Inneren die durch die Lüftungsschlitze angesaugte Feuchtigkeit auf den Metallteilen und den Bändern absetzte und es zu Gleichlaufstörungen oder gar Bandrissen kam. Beim M 4000 jedoch befindet sich über den Lüftungslöchern am Boden das FILTRON, ein motorbetriebener Luftfilter mit auswechselbarem Filterpapier, der extrem leise läuft und gereinigte, trockene Kühlluft ins Gerät saugt, um für einen störungsfreien Betrieb zu sorgen.
Eigentlich sollten alle mit Tonband in Berührung kommenden Metallteile, insbesondere die Motorachse, der Capstan, im Mellotron mindestens einmal pro Jahr entmagnetisiert werden, damit sie die Tapes nicht allmählich löschen können. Da aber Mellotronisten auch nur Menschen sind, geschah dieser wichtige Pflegeschritt in der Vergangenheit höchst selten und führte langsam, aber sicher zu immer dumpfer klingenden Sounds. Das M 4000 wurde daher mit einem nicht-magnetischen rostfreien Capstan aus Stahl ausgestattet. Die Bänder werden nun auch nicht mehr über verchromtes Eisenblech geführt, sondern über leichtgängige Kunststoffrollen. Auch auf dem HEADBLOCK, auf dem sich die 35 Tonköpfe befinden, hat man etwas Wichtiges verbessert: Wenn bei älteren Trons die Spurlage eines Tonkopfs nicht mehr exakt stimmte, entstanden Phasing-artige Störeffekte, die man nur durch mühevolle Repositionierung des Kopfes am Headblock beheben konnte – die M-4000- Tonköpfe hingegen befinden sich in leicht drehbaren Halterungen, die bei Bedarf schnell nachjustiert werden können.
Beim M 4000 bleibt zwar das Mellotron-typische, quasi-anschlagdynamische Spielgefühl, jedoch lassen sich nun die 35 Holztasten mit einer solch ungewohnten Leichtig- und Schnelligkeit drücken, dass es eine wahre Freude ist! Auch den gelegentlich durch zu starken Anschlag verursachten, oft störenden Keyklick am Bandanfang schafften die Tron Brothers durch Neupositionierung der Bandandruckschrauben aus der Welt.
Das Mellotron hatte bisher immer wieder damit zu kämpfen, dass bei einigen Tönen die Bandandruckrollen unter dem Keyboard nicht mehr ganz plan zum Band liefen und so einzelne Töne leiser oder dumpfer wiedergegeben wurden. Nach langen Experimenten konnten Bradley und Smith durch seitliches Abschleifen der ursprünglich geraden Gummirollen-Lauffläche für einen besseren Grip und eine sauberere Wiedergabe sorgen.
Der Gund für den oft jammerigen Klang älterer Trons ist die alte Motoransteuerungsplatine CMC 10, die ihrer Aufgabe, beliebig viele gedrückte Tasten mit konstanter Geschwindigkeit abspielen zu lassen, selten gerecht wurde. Im Streetly M 4000 verrichtet daher die bewährte, technisch modernere SMS-2-Platine ihren Dienst. Auch der neue, wesentlich stärkere Motor sorgt für einen ruhigen, konstanten Gleichlauf.
Den Bändern auf der Spur
Neben der Restauration und Überarbeitung traditionsreicher Sounds aus der alten MellotronLibrary hat man sich bei Streetly Electronics in den letzten fünf Jahren vor allem mit dem Erstellen neuer Klänge beschäftigt, die von der eher konservativ orientierten Kundenklientel mit großer Begeisterung aufgenommen wurden. So konnte man z. B. mit King Crimsons „Ian McDonald’s Classical Flute“, dem mächtigen „Russian Choir“, den „Sad Strings“ und einer Reihe hervorragender frischer Holzbläseraufnahmen ordentlich punkten. Im M 4000 finden sich fast alle dieser neuen Sounds zu sinnvollen Kombinationen zusammengestellt neben den bewährten Tron-Hitsounds wieder. So z. B. Flute, Violins und Cello, String Section, Genesis 8 Choir, Church Organ, Mk II Brass, Mk II Tenor Sax und Trombone, Mk II Church Organ, Female und Male Choir sowie Boys Choir, Barclay James Harvest M 300 A Strings, McDonald’s Classical Flute, Bass Clarinet, Vibes oder Cor Anglais / Oboe. Neben diesen 24 Klängen bietet Streetly Electronics dem Kunden gegen Aufpreis jede andere gewünschte Kombination (sogar mit eigenen Sounds) an.
Die Zeit unspielbarer Töne und Akkorde auf dem Mellotron ist nun endgültig vorbei. Das M 4000 klingt je nach Soundwahl mal Vintage, mal realistischer, aber immer mächtig und wie gewohnt voller Charakter. Die nicht „zu Tode gestimmten“ Tunings stimmen, und benachbarte Spuren lassen sich weich überblenden, ohne dass „Katzenmusik“ entsteht, ein Übel, von dem mancher Mellotronist ein Lied singen kann.
Trotz 35 wie Antennen wirkender Tonköpfe und dem Einsatz digitaler Technik hält sich das Rauschen in wirklich vernünftigem Rahmen. Wie beim M 400 gibt es auch beim Streetly M 4000 die Möglichkeit, vorne ein Volumenpedal (ein beim Tron nicht zu unterschätzendes Utensil) anzuschließen. Ein mit Klavierbändern versehener Deckel verschließt nun weich und präzise das Innere des Instrumentes und beseitigt so endgültig das alte Übel des schwergängigen M-400-Deckels, mit dem man sich vor allem die Finger prima einklemmen konnte. Danke, Tron Brothers!
Alle Ersatzteile des Streetly M 4000s sind übrigens abwärtskompatibel, d. h. auch für andere Trons zu gebrauchen – ein nicht zu unterschätzendes Detail, das viele Mellotron-Besitzer erfreuen dürfte. Die zum M 400 proportionalen Maße sind, da im Geräteinneren der Wickelmechanismus untergebracht werden musste, etwas gewachsen: Es ist statt 86 cm jetzt 99 cm hoch (was endlich das Spielen im Stehen ermöglicht), die Tiefe beträgt 70 cm, das Gewicht etwa 73 kg. Wie ein M 400 lässt sich auch das M 4000 gut im Kofferraum oder auf der Ladefläche schon eines Mittelklassewagens transportieren. Das Gerät ist mit einem harten Industrielack überzogen, der, anders als der empfindliche M-400-Schleiflack, resistenter gegen Stöße und Flecken ist. Außer im standardmäßigen Cremeweiß kann das Gerät gegen Aufpreis in jeder beliebigen Farbe geordert werden. Das M 4000 kostet ca. 6.650 Euro (zzgl. MwSt.). Bedenkt man, dass alleine der Preis für acht neue M-400-Bandrahmen schon zwischen 4.000 und 5.000 Euro liegt, wird schnell klar, dass das M 4000 für das, was es alles bietet, eigentlich relativ günstig ist – von den teilweise astronischen Preisen für alte restaurierte Trons einmal ganz abgesehen.
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Das sind die Themen dieser Ausgabe:
- Sampletalk mit And.Ypsilon (Die fantastischen Vier)
- Tobias Enhus spricht über sein Synclavier
- Die Groove-Mutter: Yamaha RS7000
- Real Samples – Historische Tasteninstrumente digitalisiert
- Software-Sampler am Rande der Wahrnehmung
- Korg DSS-1 als Hardware-Plug-in
- Cinematique Instruments – Filmreife Sample-Instrumente
- Groovesampler in der Praxis
- Die Mellotron-Story
- Vintage Park: Fairlight CMI
- Transkription – Ten Sharp: You
Moin,
klingt ganz spannend, das Teil.
Wenn ich mir jedoch eine Bemerkung erlauben darf: Displayanzeige ist etwas ungenau, vielleicht hätte man das präzisieren können:
Displayanzeigescreenbildschirm 😉
Vg
yoyo