Stagepiano der Luxusklasse

Viscount Physis Piano H1 – Stagepiano im Test

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Preview von Februar 2013

Physis Piano H1_02

Auf der Musikmesse 2012 wurde es zum ersten Mal präsentiert: Das Physis Piano des italienischen Markenherstellers Viscount machte vor allem von sich reden aufgrund der Klangerzeugung, die Physical-Modeling – daher der Name – ebenso nutzt wie Sampling, um anspruchsvollen Pianisten ein hochwertiges Instrument für den Live-Einsatz an die Hand zu geben.

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Hochwertig, anspruchsvoll – das klingt schon mal teuer! Und in der Tat ist der angepeilte Preis, für den man es gerade in den Musikgeschäften sieht, mit knapp 4.000 Euro kein Pappenstiel. Nichts für Anfänger also, das steht schon mal fest. Dann spielen wir es doch mal an, schließlich findet solch ein edles Instrument nicht alle Tage den Weg in unser bescheidenes Teststudio. Die robuste Verarbeitung und das dezente Design gefallen auf Anhieb. Den etwas futuristischen Look vermittelt das Touchpanel – das Bedienfeld taucht nach dem Einschalten unter der schwarzen Oberfläche auf.

Die Touchbedienung funktioniert prima, wobei das in das Panel eingelassene Display zu Irritationen führt – es ist nämlich nicht, wie man spontan vermutet, berührungsempfindlich, sondern will über die „virtuellen“ Funktionstaster links und rechts vom Bildschirm bedient werden. Reine Gewöhnungssache – und doch ertappe ich mich nach einiger Zeit immer noch dabei, wie ich auf dem Display herumtippe … vielleicht liegt’s auch an den realistischen Abbildungen von verschiedensten Grandpianos, die mit Druck auf die Plus/ Minus-Buttons über die Mattscheibe schwirren: verflixt schick, italienisches Design eben.



№4 2017

  • Modular Kolumne
  • FOO FIGHTER RAMI JAFFEE
  • INTERVIEW MIT MATT BLACK VON COLDCUT
  • OMD
  • Look Mum No Computer
  • Beardy Guy von Walk Off The Earth
  • STAGEPIANOS: DIE NEUE EINFACHHEIT
  • Ungesichert: Fusebox
  • Touché! Ein sehr sensibles Brett!
  • Inside Clavia: Besuch in Stockholm
  • REISE ZUM URSPRUNG DER SYNTHESE
  • DIE HAMMOND-STORY
  • Transkription: Chilly Gonzales –  Solitaire


Angespielt: Viscount Physis Piano H1 

Ansonsten lässt sich das Instrument sehr einfach bedienen: links eine Soundkategorie anwählen, über das Display weitere Soundvarianten entdecken – und einfach losspielen. Das wird sofort zu einem Erlebnis, denn die Sounds vermitteln auf Anhieb fantastische Ausdrucksmöglichkeiten. Das Dynamikverhalten, die Klangdetails, die akustischen Zusammenhänge von Saiten und Dämpfern – all das scheint hier in Hochauflösung zu arbeiten. Im Vergleich zu Sampling-Pianos ist eine große Stärke der Physical-Modeling-Instrumente, dass die Sounds bezüglich der Klanggestaltung und Ausdrucksmöglichkeiten flexibler sind. Beim Spielen des Physis Piano hat man auch viel mehr das Gefühl, man würde echte Saiten zum Schwingen bringen. Man kann das auf sehr einfache Weise testen: Man spielt im Haltepedal einen lauten Ton an und repetiert diesen langsam mit sehr leisem Anschlag.

Das Physis Piano reagiert nun wie ein echter Flügel: Durch das sanfte Berühren der Saiten mit dem Hammer wird kontinuierlich Energie aus der Saitenschwingung genommen, sodass der anfangs laute Ton mit jedem leisen Anschlag etwas leiser und dumpfer wird. Gleichzeitig werden aber durch die Aktionen der Mechanik die offenen Saiten leicht angeregt, sodass ein diffuser Space entsteht – das wird z. B. bei atmosphärischen Filmmusiken mittels Kompressor gerne noch hervor – gehoben. Spontane Begeisterung – nicht nur bei den akustischen Pianos übrigens, denn auch die E-Pianos sind Spitzenklasse.

Die „graded“ Holztastatur mit Hammermechanik und Ivory-Feel vermittelt ein angenehmes Spielgefühl für diejenigen Pianisten, die eher eine leichtgängige Klaviatur bevorzugen. Repetition und dynamisches Spiel werden aber sauber umgesetzt. Und man kann durchaus auch kräftig zulangen, wobei die Klangerzeugung reichliche Reserven zu haben scheint. Wow!

Physis Piano H1_01

Jetzt mal ganz piano!

Herzstück des Physis Piano ist Physical-Modeling – das heißt, die Sounds werden nicht als gespeicherte Aufnahmen ausgelesen (Sampling), sondern auf Basis physikalischer Modelle in Echtzeit berechnet. Dazu bedient sich das Physis Piano sogar gleich mehrerer Modelle: Neben dem Modell für akustische Pianos unterscheidet das Physis Piano zwischen den beiden Klangerzeugungsprinzipen von Rhodes (Tine) und Wurlitzer (Reed). Und auch auch Mallet-Instrumente sowie Clavinet beherrscht das Viscount Piano. Darüber hinaus gibt es eine samplingbasierte Klangerzeugung, die dem Ganzen die Sounds zum Splitten und Layern hinzufügt. Strings, Pads, Bässe, Gitarren – alles, was man zum Live-Spielen braucht, in ansprechender Qualität.

Ein großer Vorteil der Physical-Modeling-Klangerzeugung ist die immense Flexibilität gegenüber samplingbasierten Digitalpianos: Hat man es bei diesen mit leichten Abwandlungen der Basissamples zu tun, dessen Klangverhalten mit EQs und Filtern nachbearbeitet wird, ermöglicht das Physis Piano die Emulation völlig unterschiedlicher Grundcharaktere. Und so finden wir Presets mit Steinway-, Bösendorfer- und Yamaha-Charakter ebenso wie klassische Upright-Pianos mit viel Charme. Sie unterscheiden sich im Auskling- und Resonanzverhalten und ebenso in ihrer grundliegenden Klangfarbe. Wenn man tiefer in die Programmierung einsteigen möchte, kann man sogar seine eigenen Varianten erstellen, wobei sich jeder einzelne Ton im Klangverhalten justieren lässt.

Inspirierend

Vor allem begeistert die Ausdruckskraft, die den Sounds innewohnt – die auf der anderen Seite spielerisch entdeckt werden wollen. Die Presets inspirieren spontan zu bestimmten Genres oder Songs. Mit dem weißen John-Lennon-Piano z. B. spielt man fast automatisch den Kultsong Imagine an. Ebenso werden Rock- und Pop-Pianeure wissen, was mit dem roten Grandpiano anzufangen ist. Es gibt aber auch viele Sounds mit universellen Einsatzmöglichkeiten für Rock, Blues, Jazz, Funk, Soul, Klassik oder Filmmusik – jedes Modell reagiert ganz spezifisch im Dynamikverhalten, sodass man sich schon eine Weile darauf einspielen muss. Neben den akustischen Upright- und Grandpianos darf man die Rhodes-Pianos nicht vergessen, denn die sind schlichtweg der Burner.

Mein Favorit ist das Suitcase Rhodes. Ich habe selten eine so realistische Sound-Emulation gespielt. Bemerkenswert, mit wie vielen kleinsten Details hier auch das Dämpferverhalten und die Unebenheiten des Originals berücksichtigt werden. Bei den akustischen Pianos habe ich diese Liebe zum Detail ein wenig vermisst, zumindest vorerst, denn unser Testgerät kam mit der Softwareversion 1.0 zu uns, die kurz vor Redaktionsschluss ein Update mit wichtigen Verbesserungen bekam. Daher haben wir uns entschlossen, es zunächst bei diesem Preview zu belassen, um das Physis Piano im ausführlichen Testbericht in der nächsten Ausgabe noch mal genau unter die Lupe zu nehmen.

Der erste Eindruck fällt schon mal äußerst positiv aus: ein edles Stagepiano mit tollen Sounds und vielen Möglichkeiten für individuelle und ausdrucksstarke Sounds – selbstverständlich sind auch die entsprechenden Effekte mit an Bord. Im Vergleich zu Instrumenten wie z. B. dem V-Piano von Roland, das ja auch Physical-Modeling nutzt, dürfte das Physis Piano große Chancen haben. Schließlich ist es mit akustischen Pianos, E-Pianos und Mallets plus Sampling-Sounds (für Pads etc. zum Layern) nicht nur deutlich flexibler und dabei leichter und kompakter (wichtige Argumente für ein transportables Instrument), sondern auch deutlich günstiger.


Testbericht von April 2013

Klangrealismus pur!

Viscount Physis Piano H1
(Bild: Dieter Stork)

Physical Modeling als Klangerzeugung ist bei den Stagepianos eine Rarität. Eine Ausnahmeerscheinung ist das Physis Piano, dessen Sounds komplett in Echtzeit berechnet werden – vom Hammeranschlag über die Saitenschwingungen und Resonanzen bis hin zum Dämpferverhalten. Neben einer unschlagbaren Klangvielfalt bringt diese Technik vor allem einzigartige Spieleigenschaften mit sich …

Bislang war all dies das Alleinstellungsmerkmal des Roland V-Piano – wohlgemerkt auf dem Digitalpiano-Sektor, um die Abgrenzung zum Software-Instrument Pianoteq von Modartt zu finden, das ebenfalls auf Physical Modeling basiert. Es gab zwar schon vorher hybride Systeme, die eine Sampling-Klangerzeugung mit per Physical Modeling realisierten Saitenresonanzen kombinierten, aber mit dem V-Piano hat Roland als erster Hersteller ein Digitalpiano präsentiert, dessen Klangerzeugung komplett auf Physical Modeling basiert. Innovation ja, aber: „zu groß, zu schwer, zu teuer“, war die landläufige Meinung zu Rolands neuem Stagepiano-Topmodell.

Das Physis Piano kann sich hier schon mal gut positionieren: Es ist handlicher und leichter, dabei aber robust verarbeitet. Mit einem Preis von knapp 4.000 Euro ist es deutlich günstiger als das V-Piano, aber noch immer teurer als die Oberklasse wie z. B. das Nord Stage 2. Etwa gleich zieht hier das Modell H2, das im Unterschied zum Topmodell H1 nicht mit einer Holztastatur ausgestattet ist, sondern mit einer herkömmlichen Hammermechaniktastatur. Auch diese spielt sich sehr gut, für meinen Geschmack sogar noch ein Quäntchen exakter als die Holztastatur des H1. Beide Tastaturen bieten dank Ivory-Touch-Oberfläche viel Spielkomfort, die Holztastatur wirkt im Vergleich aber insgesamt leichtgängiger. Das H2 gibt’s dann noch als 73-Tasten-Version namens H3, das uns zum Test aber nicht zur Verfügung stand. Komplett wird die Serie mit den Modellen K4 und K5, die Masterkeyboard-Funktionen besitzen.

Warum Physical Modeling?

Dieses Klangerzeugungskonzept braucht deutlich weniger Speicher als Sampling, stellt aber umso höhere Anforderungen an die Prozessorleistung: Das komplexe akustische Zusammenwirken aller Klangkomponenten in Echtzeit zu berechnen ist sehr anspruchsvoll, bei 88 Tönen, Haltepedal, Soft, Sostenuto, Saitenresonanzen und Sympathetic Resonances sowie Nebengeräuschen von Tasten, Hämmern und Dämpfern kommt einiges zusammen.

Aber warum bloß der ganze Aufwand? Das Besondere an dieser Art der Klangerzeugung ist die Möglichkeit, die Entstehung der Klänge viel detaillierter zu steuern, als es mit Sampling möglich wäre. Ein Vorteil, den man beim Physis Piano unmittelbar erfahren kann, ist die stufenlose Anschlagdynamik der Klänge. Da es keine Velocity-Switch-Layer gibt, entsteht auch keine „Stufendynamik“. Und auch dies bemerkt man beim Physis Piano sofort: Der Zusammenklang im Haltepedal sowie die Fortentwicklung der Saitenschwebung ohne künstliche Loops bringt ein Klangverhalten zustande, das man spontan als natürlich empfindet.

Aber Physical Modeling hat noch viel mehr Potenzial – und auch das zeigt das Physis Piano: Für Sounddesigner oder Entwickler ist es möglich, die unterschiedlichsten Klangcharaktere zu realisieren – ohne dafür ein Instrument komplett neu sampeln zu müssen. Man kann auf die Beschaffenheit von Hammerstärke, Saitenspannung und -länge sowie Resonanzverhalten etc. Einfluss nehmen. Jede Einstellung wirkt sich dabei auf das gesamte Klangverhalten aus. Es ist vergleichbar mit der Arbeit eines Klavierbauers: Erhöht man z. B. die Härte der Hämmer, resultiert daraus nicht nur ein obertonreicherer Sound, sondern auch ein anderes dynamisches Klangverhalten als bei weicheren Hämmern. Das alles kann beim Physis Piano auch von Anwenderseite aus geschehen, sodass sich jeder einen individuellen Klaviersound bauen kann – aber dazu später mehr. Schauen wir uns erst einmal die Sounds und die Architektur des Instruments näher an.



Stagepiano der Luxusklasse. Das Physis-Piano vereint edle Spieleigenschaften einer Holztastatur mit innovativer Technologie. Die Physical-Modeling-Klangerzeugung macht nicht nur akustische Pianos möglich, sondern ebenso authentisch Vintage-Piano-Sounds von Fender Rhodes und Wurlitzer sowie zahlreiche Mallet-Instrumente. Alle Instrumente lassen sich zudem sehr detailliert editieren.



Struktur

Neben Physical Modeling beherrscht das Physis Piano auch Sampling – ein Teil der Sounds wird aus einem Sample-ROM ausgelesen, was aber nur die klassischen „Zusatz“- Sounds betrifft, die man gerne zum Layern oder Splitten verwendet: Pads, Strings, Orgeln, Synthsounds, Brass sowie Bässe und Gitarren. Die Qualität dieser Sounds ist ordentlich, die Auswahl weitgehend gut getroffen, Nylon- und Steel-Guitar hätte man sich für meinen Geschmack sparen können.

Spaß machen die Akustik- und Elektro-Bässe, die Pads und Strings hüllen den Hauptsound gut ein, ohne zu matschen. Die Möglichkeiten der Klanggestaltung sind dabei sehr überschaubar, aber effektiv.

Alle anderen Sounds werden per Physical Modeling erzeugt, und in diesem Punkt hat das Physis Piano weit mehr als akustische Pianos zu bieten. Hinzu kommen Vintage E-Pianos und Mallet-Instrumente von geradezu exquisiter Qualität.

E-Pianos

Damit grenzt sich das Physis Piano nochmals von Rolands V-Piano ab, das sich komplett auf akustische Pianos konzentriert. Die zahlreichen Presets enthalten die verschiedensten E-Piano-Sounds. Natürlich gibt’s auch die typischen FM-Pianos – man findet sie in der Rubrik KEYBOARD der Sampling-Sounds vor.

Die Vintage-Pianos resultieren ebenfalls aus physikalischen Modellen, wobei ein Tines-Modell (Fender Rhodes) und ein Reed-Modell (Wurlitzer) vorhanden sind. Beide sind fantastisch, am besten gefällt mir allerdings das Tines-Modell. Die Fender-Rhodes-Sounds gehören zum Feinsten und Besten, was ich bislang als digitale Simulation (egal gesampelt oder gemodelt) unter die Finger bekommen habe – die Dynamik, das Schmatzen der Klangzungen, die Variation von Ton zu Ton in Attack- und Release/Damper-Verhalten – sen-sa-tio-nell! Speziell mit der Holztastatur des H1 fühlt sich das schlicht und einfach echt an.

Welches Potenzial in den Modellen steckt, belegen die zahlreichen Varianten des Sounds: Das Suitcase-Piano mit Stereo-Tremolo, Phaser, Chorus, Auto-Wah oder leicht angezerrt. Die 60er-Variante mit etwas zurückhaltender Dynamik und holzigerem Sound, die glockigere 80er-Variante – das wirkt alles sehr authentisch, und man spielt spontan Riffs im Stil von Herbie Hancock, George Duke, Donald Fagen oder Chick Corea an.

Last but not least gibt’s auch den E-Flügel Yamaha CP-70B/80 als äußerst gelungene Simulation im Physis Piano.

Akustische Pianos

Um all die hier vorhandenen Grand- und Upright-Pianos in einem Sampling-Instrument unterzubringen, bräuchte man hunderte Gigabytes – und hätte letztendlich doch nicht die dynamische Qualität dieser Sounds. Bereits zwischen dem Concert Grand und dem US Stage Grand D – beides hervorragend klingende Flügel mit brillantem, breitem Klangbild – liegen Welten! Der Konzertflügel klingt offen und weit, während das Grand D insgesamt direkter und definierter daherkommt. Es hat viel mehr Wumms und spricht auch auf das dynamische Spiel anders an. In völligem Kontrast dazu klingt das „Lennon-Piano“ so, als würde man selber an John Lennons berühmten Flügel sitzen. Hier sind die Saitenchöre nicht perfekt durchgestimmt, was einen tollen lebhaften Gesamtsound erzeugt. Die Klavierbegleitung von Imagine klingt damit perfekt, aber es klingt auch generell super bei Songs im Singer/Songwriter-Stil. Gut geeignet sind dafür natürlich auch die Upright-Sounds. Auch hier erzeugen leichte (oder stärkere) Abweichungen in der Intonation der Saitenchöre ein sehr authentisches lebhaftes Klangverhalten.

Die Flügelsounds decken eine riesige Bandbreite ab – von Klassik über Jazz, Rock, Gospel, Pop-Balladen, Soul-Funk bis hin zu experimentellen Sounds, die in Richtung Präpariertes Klavier gehen. Wirklich erstaunlich, was sich mit dieser Klangerzeugung alles anstellen lässt. Wünschen würde ich mir lediglich ein Pianomodell, das sehr direkt klingt. Denn mehr oder weniger haben dies alle Pianos: Auch wenn man den Reverb- Effekt ausschaltet, folgen die Sounds eher dem Klangideal einer weiten Mikrofonierung denn einer direkten, die Raumanteile weitgehend ausblendet. Aber das ist Kritteln auf hohem Niveau.

Sound Edit

Viele Pianisten werden mit den vorhandenen Presets bestens zufrieden sein, wäre da nicht die Möglichkeit, selber an den Sounds zu schrauben. Denn so kann man einem bereits guten Sound eine individuelle Note verleihen. Man sollte sich damit Zeit lassen, denn einige Parameter sind in ihrer Wirkung so stark veränderbar, dass man der Physik ein Schnäppchen schlagen kann – will sagen: Nicht alle Parameteränderungen resultieren zwingend in einen Sound, den man als „natürlich“ empfindet. Aber es bietet Potenzial für ganz neue Sounds – hilfreich sind jeweils die HELP-Fenster, die die Wirkungsweise und Zusammenhänge der Parameter (löblicherweise auch auf Deutsch) erklären.

Hilfreich ist, dass man zunächst den Überblick über die Parametergruppen bekommt, denn hinter HAMMER, TUNING, STRING TYPE, RESONANCE, SIZE verbirgt sich jedes Mal ein ganzer Satz an Einstellmöglichkeiten. Noch überschaubar ist das Menü TUNING: Hier lässt sich beispielsweise mit UNISONO die Schwebung (UNISONO) der Saitenchöre und das STRETCH-Tuning einstellen. Im Menü HAMMER aber lässt sich sehr detailliert auf die Beschaffenheit und die Aktion der Hämmer Einfluss nehmen: HARDNESS, MASS, KNOCK und HIT POINT haben zum Teil schon dramatischen Einfluss auf das Klangverhalten.

Effekte, Amp & EQ

Weitere Gestaltungsmöglichkeiten bieten die Effekte. Es gibt zwei Master-Effekte EFX und REVERB, die sich im MIXER-Menü per Send-Regler ansteuern lassen – auch für Split- und Layer-Sounds getrennt. Und es gibt pro Sound einen Insert-Effekt, der zwischen Delay und Chorus unterscheidet. Wesentlich mehr hat die EFX-Abteilung zu bieten: Delay, Chorus, Phaser, Flanger, Vibrato, Tremolo, Wah und Rotary. Interessant vor allem für die E-Pianos ist die AMP-Sektion, die überzeugend klingende Preamp-Simulationen bietet. Es stehen verschiedene Tube- und Transistor-Versionen zur Auswahl mit unterschiedlichem Zerrverhalten – von leicht angeraut bis heißgefahren ist alles dabei. Bei einigen Sampling-Sounds wirken diese Effekte Wunder. So z. B. gewinnt die Split-Kombination mit Fender Rhodes und Kontrabass deutlich an Biss, wenn der Bass auch über einen Amp läuft.

Zum Abstimmen des Gesamtsounds dient dann noch ein EQ, der sich wahlweise als grafischer oder parametrischer Equalizer anwenden lässt. Hier bleiben keine Wünsche offen.

Praxis

Die Setup-Funktionen sind mit allem ausgestattet, was man braucht – von der Justage der Anschlagdynamik mit User-Dynamik – kurven über verschiedene Tuning-Skalen bis hin zur Anpassung der angeschlossenen Pedale. Schön, dass man auch an ein Metronom gedacht hat. Es lässt sich in Betonung und Taktart ebenso einstellen, wie die externe Synchronisierung möglich ist.

Vom Preview in Ausgabe 2.2013 hat der Hersteller einige wichtige Updates geliefert und damit zahlreiche Funktionen nachgereicht wie z. B. den Audiofile-Player. Ganz besonders aber wurden die physikalischen Modelle verfeinert und um etliche Details ergänzt. Die Verbesserungen betrafen unter anderem das Dämpferverhalten, das die von uns zuerst getestete 1.0-Version gar nicht berücksichtigte. Wer das Instrument antestet, sollte unbedingt darauf achten, dass das aktuelle Betriebssystem 1.3 und auch das neuste Sound-Set installiert sind.

Den wichtigsten Teil des Praxistests besteht das Physis Piano mit Bravour: Das Spielen von Sounds – egal ob pure Piano-, Split- oder Layer-Sounds – ist das reinste Vergnügen. Die Sounds klingen durchweg edel und voluminös. Dabei haben alle Sounds ein immenses dynamisches Potenzial. Gerade aus Sicht des Spielers zeigen sich hier die großen Vorteile von Physical Modeling: Die Ausdrucksmöglichkeiten sind beim Physis Piano wirklich außerordentlich. Der für mich markanteste Unterschied zu Sampling-basierten Instrumenten: Beim Spielen reagiert der Sound viel nuancierter, und man bekommt eine Art Feedback vom Instrument, das es einem ermöglicht, die Klangfärbungen spielerisch zu formen. Die Performance-Eigenschaften der Sounds sind phänomenal.

Bestnoten bekommt auch die Verarbeitung – das Gehäuse macht einen sehr robusten und stabilen Eindruck. Die Holztastatur kann nicht mit Kawai-Instrumenten mithalten, aber sie vermittelt ein komfortables, edles Spielgefühl.

Das Bedienkonzept bietet aber Anlass zur Kritik, denn die Benutzerführung des nicht Touch-fähigen Displays erfordert viele Navigationsschritte (Curser, Softkeys, Data-Entry, Enter, Exit) und weist auch einige Ungereimtheiten auf (siehe Kasten).

Die Touch-Oberfläche des Bedienfelds ist superschick und vermittelt einen topmodernes Äußeres, dennoch wären mir handfeste Bedienelemente lieber gewesen: Es gibt z. B. keinen „echten“ Lautstärkeregler, auch dieser leuchtet unter Glas und gibt wie alle anderen Softkeys kein taktiles Feedback. Für Musiker mit Sehbehinderung ist das Instrument vermutlich unbedienbar.

Last but not least muss man anmerken, dass das Physis Piano nach dem Einschalten fast zwei Minuten braucht, um spielbereit zu sein – für den Live-Einsatz ist das zu lang.

Fazit

Das Physis Piano H1 ist ein Stagepiano der Luxusklasse, was sich nicht allein durch den Preis und die Ausstattung mit einer Holztastatur erklärt. Die Physical-Modeling-Klangerzeugung ermöglicht eine Vielfalt an authentischen Piano-Sounds, die derzeit in dieser Qualität und Flexibilität kein anderes Stagepiano bieten kann. Lediglich das in Teilen unschlüssige Bedienkonzept gibt Anlass zur Kritik; hier sollte der Hersteller nachbessern. Ansonsten sammelt das Physis Piano in puncto Verarbeitungsqualität, Spielspaß und nicht zuletzt im exzellenten Sound nur Pluspunkte. Ein tolles Instrument!

Hersteller/Vertrieb: Physis Piano / Trius Music Distribution GmbH

Internet: www.physispiano.com / www.trius-musicdistribution.de

UvP/Straßenpreis: 4.757,62 Euro / ca. 4.000,– Euro

+ hoher Klangrealismus

+ sensationelles Fender-Rhodes-Modell

+ hohe Flexibilität der Sound-Editierung

– Bedienkonzept

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