Clavia Nord Electro 4HP – Combo-Keyboard im Test
Das Nord Electro hat eine erfolgreiche Entwicklung durchlaufen. Auch die 2012 auf den Markt schießende vierte Generation bleibt dem Grundkonzept der gesamten Electro-Reihe treu: Es vereint die Sounds der beliebten elektromagnetischen Vintage-Keyboards in einem kompakten Instrument, das sich dank geringem Gewicht mal schnell zum Club um die Ecke schleppen lässt, um auf der Bühne dann den riesigen Sound von B3, Rhodes & Co. zu entfalten …
Das klassische Keyboard für kleine Gigs und Live-Sessions war das Nord Electro schon immer, wobei man hinsichtlich der Tastatur aber einen Kompromiss machen musste. Wurden die ersten Electro-Modelle wegen ihrer Waterfall-Tastatur eher von Organisten geschätzt, begeistern sich auch Pianisten erst seit der Einführung der HP-Modelle wirklich für das Electro. Die HP-Modelle verfügen über eine Hammermechanik-Tastatur – ein Ausstattungsmerkmal, das sich spontan so nicht in Einklang bringen lässt mit leichtem Transport, aber auch hier haben die Clavia-Entwickler einen gesunden Kompromiss gefunden: HP steht für „Hammer Action Portable Keyboard“. Es handelt sich dabei um eine auf Leichtigkeit getrimmte Hammermechanik-Klaviatur, aufgrund derer man auch dem Electro 4 spontan ein geringes Gewicht bescheinigen darf.
Dabei ist das Gehäuse wie von Clavia gewohnt robust und stabil verarbeitet. Trotzdem lässt sich das 73-Tasten-Keyboard mal so unter den Arme klemmen. Die Tastatur kommt qualitativ mit teuren Stagepianos nicht mit, sie spielt sich aber schön griffig und setzt das dynamische Spiel sauber um – für anspruchsvolle Pianistenhände schon ein Kompromiss, aber ein tragbarer (wenn man die hauptsächliche Anwendung „live on stage“ im Fokus behält). Bei erster Betrachtung unterscheidet sich das Electro 4HP kaum vom Vorgänger – wir werden uns im Folgenden also auf die inneren Werte konzentrieren (die es in sich haben). Der Aufbau des Bedienfelds ist klassisch: Eine Orgelsektion mit dem typischen LED-Drawbar-System zur Linken, rechts daneben die Piano-Sektion plus Effekte – im Bedienfeld vertreten durch allerhand Potis und Buttons. Alles ist gut verarbeitet und lässt sich auf Anhieb intuitiv bedienen.
Jetzt das neue KEYBOARDS Special 05/06 The Soul of Piano versandkostenfrei bestellen!
- GEWA: Digitalpianos Made in Germany
- Get Real Piano: Piano-Recording via Yamaha Disklavier in Kanada
- Greg Phillinganes & Chuck Leavell im Interview
- Der Jazzpianist David Helbock im Portrait
- Sebastian Krämer − zwischen Keyboard-Party und Disklavier
- Dieter Falk verjazzt Luther
- femaleJazz mit Julia Hülsmann
- Bechstein Digital Grand
- Italienische Innovation: Dexibell VIVO H7
- Clavia Nord Piano 3
- Online-Pianoschulen in der Praxis
- Vintage: Kawai EP-608
- Transkrition: Pinetop’s Blues
Mehr Speicher, mehr Sounds!
Eine wichtige Neuerung hört man sofort, auch wenn sich dahinter zunächst eine nüchterne Zahl verbirgt: Mit rund 500 MB ist der Speicher insgesamt um mehr als das Doppelte vergrößert worden. Wer sich an die Umfänge aktueller Sampling-Instrumente gewöhnt hat, wird vermutlich gähnen – allerdings darf man nicht vergessen, dass wir es mit einem richtigen Instrument für den Live-Einsatz zu tun haben. Einschalten und ohne Ladezeiten gleich loslegen: Das Electro 4 ist nach wenigen Sekunden spielbereit und bietet darüber hinaus den Komfort, dass man sich seine Sounds selber zusammenstellen kann.
Dies ist mit noch mehr Komfort verbunden, den man als Nord-User genießt: Der Hersteller bringt ständig Erweiterungen seiner Premium-verdächtigen Sample-Library heraus, wobei das Electro 4HP dank Speichererweiterung auf die Nord-Piano- und die Nord-SampleLibrary zugreifen kann. Für Pianosounds bietet das Electro 4HP dann 380 MB, für die Sounds der Nord-Sample-Library stehen 128 MB Speicherplatz bereit. Die Zusammenstellung und den Upload der Sounds via USB in den Speicher übernimmt der Nord Sound Manager (Mac&PC). Das Prozedere nimmt wie gehabt etwas Zeit in Anspruch. Hat man die Samples aber einmal vom Rechner ans Instrument übertragen, bleiben sie im Gerät erhalten und sind nach dem Einschalten sofort spielbereit.
Piano Section
Sehr gut klingende Sounds von Vintage- und Akustik-Pianos sind auch beim Nord Electro 4HP eines der Qualitätsmerkmale. Die Pianosektion ist unterteilt in sechs Kategorien: Grand, Upright, E-Piano 1, E-Piano 2, Clavinet und SAMP LIB. Letzteres ist der Bereich für die Sounds der Nord-Sample-Library – ab Werk sind hier sehr schöne, volle String-Sections und einige Vintage-Sounds der originalen Mellotron- Library untergebracht. Die komplette aktuelle Library liegt dem Instrument als CD bei.
Die Sounds lassen sich im Klangverhalten nur geringfügig, wenngleich effektiv anpassen. Über die Sample-Envelope-Funktionen lässt sich das Dynamikverhalten abschalten oder ein weiches Ein- und Ausschwingverhalten erzielen. Die Akustikpianos machen einen sehr guten Eindruck – sauber gesampelte Klänge mit einem schönen Stereo-Image und gutem Dynamik – verhalten. Was mir sehr gut gefällt – egal ob Upright oder Grandpiano -, ist der grundsätzlich kräftige und durchsetzungsfähige Sound der Pianos: Füllkraft und tragender Sound bei Begleitungen und Reserven für dynamische Akzente bei Solopassagen und Riffs. Das kleine Electro hat sogar richtig Biss, wenn man mal zulangt. Tiptop! Dieses Klangverhalten findet man auch bei den E-Pianos vor, die exzellente Variationen der verschiedenen Fender-Rhodes-Modelle repräsentieren. Unter E-Piano 2 gibt es dann noch ein Wurlitzer, während die Clavinet-Abteilung mit verschiedenen Pickup- und Filterkombinationen mehr als gut vertreten ist. Insgesamt ist hier eine hervorragende Qualität geboten.
Orgel Section
Die Orgelsektion wurde drastisch überarbeitet und zieht mit der „besten Combo-Orgel der Welt“ (siehe KB 4.2012) der Nord C2D gleich. Das spürt man: Die neue Tone-Wheel-Engine lässt die B3 fauchen, was das Zeug hält. Vor allem der Tonansatz ist nochmals besser geworden. Die Orgelsektion bietet alle Zutaten für authentische B3-Sounds von gediegener Tanzmucke über smoothe Jazz- bis zu knochigen Rocksounds – inklusive Percussion, Key-Click und Vibrato/Chorus. Einziges „Manko“ sind vielleicht die LED-Drawbars, aber wer in den Genuss echter Zugriegel kommen möchte, kann ja auf das Modell Electro 4D zurückgreifen. Mit den Orgelmodellen Farfisa und Vox bleiben hier wirklich keine Wünsche offen.
Effekte
Auch hier gibt es Neuzugänge, die vor allem den Orgeln spürbar zugute kommen. Die neue 122er Leslie-Simulation lässt sich mittels DRIVE sehr realistisch übersteuern – besonders die Zwischenbereiche, in denen man eben nicht Vollgas gibt, sind gut ausgemessen und stecken voller Nuancen. Das klingt hervorragend. Ansonsten liefern die Effekte genau das, was man von ihnen erwartet – in exzellenter Qualität: authentische Modulations-Effekte wie Tremolo, Pan-Modulation, Chorus, Phaser, Flanger und Ringmodulation. Auch die E-Pianos und die Clavinet-Varianten leben durch die Amp-Simulationen noch einmal richtig auf.
Sound & Praxis
Layer-Möglichkeiten von Pianos mit den Sounds der Sample-Library stehen auf meiner Wunschliste ganz oben. Gerade bei der Fülle an guten Sounds, die nun in den Speicher passen, wäre dieses Feature eine willkommene Erweiterung gewesen – zumal auch der Preis des Instruments eine gewisse Erwartungshaltung erzeugt. Was ist also der Kick am Electro 4HP? Da wären dann so einige Features zu nennen: Die Orgelsektion ist – abgesehen von den LED-Drawbars – ein Alleinstellungsmerkmal. Ebenbürtiges gibt es derzeit nur aus dem eigenen Lager (Nord C2D), kein anderer Hersteller kann da mithalten. Die Möglichkeit, auf eine ausgereifte, qualitativ hochwertige Sample-Library zurückzugreifen, um die Sound-Presets des Instruments nach Bedarf zu gestalten, bietet nach wie vor kein anderes Stagepiano.
Der Fokus auf die Sounds elektromagnetischer Vintage-Keyboards wurde inzwischen von einigen Mitbewerbern mit ähnlichem Anspruch angegangen, aber nicht in der Ausführlichkeit und Konsequenz umgesetzt, wie es Clavia seit Erscheinen des Electro immer weiter perfektioniert. Nicht zuletzt ist das geringe Gewicht des Instruments ein starkes Argument für alle, die ihre Instrumente selber transportieren. Und wenn man insgesamt betrachtet, was Clavia hier an Sound- und Verarbeitungsqualität in einem kompakten Instrument unterbringt, hat das schon Klasse. Und das spürt man beim täglichen Gebrauch: Gehäuse und Bedienelemente sind äußerst robust. Die Bedienung ist selbsterklärend, wobei das Electro 4HP mehr Funktionalität bietet, als das übersichtliche Layout vermuten lässt. So bietet die Tone-Wheel-Engine verschiedene VINTAGE-MODES und einen CLEAN-MODE an, die den Grundsound der B3 verändern. Dabei kann die Orgel sogar den sirrenden Geräuschteppich simulieren, den eine B3 schon von sich gibt, ohne dass ein einziger Ton gespielt wird.
Die Orgel lässt sich übrigens über die Hammermechanik-Tastatur angenehmer spielen, wenn man den ORGAN TRIGGER MODE nutzt, bei welchem die Tastenkontakte schon im oberen Tastenweg auslösen. Wer ein noch besseres Spielverhalten möchte, kann die Orgel sektion via MIDI-Keyboard ansteuern, wobei sich das Ganze per MIDI-Split-Mode dann so einstellen lässt, dass das Lower-Manual über die Tastatur des Electro, das Upper-Manual über die externe MIDI-Quelle angesteuert wird. Dass man bei der Entwicklung des Instruments grundsätzlich verschiedene Live-Szenarien bedacht hat, zeigt auch das simple, aber flexible Output-Routing. Bei Bedarf können die Pianos über den rechten, die Orgel über den linken Audioausgang ausgeben werden – praktisch, wenn man die beiden Sektionen mit unterschiedlichen externen Effekten bearbeiten möchte. Man kann hier längst nicht jedes Detail erwähnen, aber ich möchte den lobenswerten LIVE-Mode nicht verschweigen: Die jeweils letzte Einstellung des Instruments wird hier festgehalten, wobei nach etwa einem Stromausfall das Instrument genau mit der letzten Einstellung wieder startet. Unschön aber: Clavia liefert das Nord Electro 4HP ohne Sustain-Pedal aus, wobei es sich aber auf beide Schalterarten (open/closed) umschalten lässt.
Fazit
Das Nord Electro 4HP ist mit seinem recht hohen Preis sicher kein Schnäppchen, dafür aber ein rundum professionelles Instrument für Livekeyboarder, die großen Wert auf leichte Transportfähigkeit und robuste Verarbeitung legen. Des Weiteren spricht es diejenigen an, die bereit sind, kleine Kompromisse hinsichtlich der Tastatur (zugunsten des geringen Gewichts) einzugehen, nicht aber bei den Sounds. Neben der verbesserten Orgelsektion sind die akustischen und elektrischen Pianosounds live on stage eine Wucht. Dank stark vergrößertem Speicher bietet das Electro 4HP deutlich mehr Komfort und Flexibilität als der Vorgänger. Ein mitgeliefertes Sustain-Pedal hätte man bei dem Preis aber erwarten dürfen.
Plus/minus
+ exzellente Sounds
+ hervorragende Verarbeitung
+ geringes Gewicht
+ kostenloser Zugriff auf Sound-Libraries
+ Orgelsektion der Combo-Orgel C2D
+ mehr als doppelt so viel Speicher als Electro 3
– Sustain-Pedal nicht im Lieferumfang
– keine Split/Layer-Möglichkeiten
– hoher Preis
Derzeitiger Gebrauchtmarkt-Wert (Dez. 2016): ca. 1100,- bis 1300,- Euro.