Sendecki & Spiegel: Meanwhile in Heaven
Pianisten und Schlagzeuger sind es gewohnt, in diversen Bandbesetzungen zu spielen − bis runter zur Trioformationen gehört das zum Alltag. Wer aber legt bei einem Duo aus Klavier und Schlagzeug das Bassfundament, wenn der Bassist quasi wegrationalisiert wird? Und wie verhält sich der Schlagzeuger ohne den pulsierenden Tieftöner an seiner Seite? Vladyslav Sendecki (KIavier) und Jürgen Spiegel (Schlagzeug) haben sich dieser Herausforderung auf ihrer jüngst erschienen CD Two In The Mirror (erschienen bei SKIP) gestellt − und sich dabei ungekannte Freiräume erspielt.
Beide gehören schon lange zu den ganz Großen im Jazz: Spiegel ist seit über 15 Jahren die treibende Kraft hinter dem Tingvall Trio um den schwedischen Pianisten Martin Tingvall und den kubanischen Kontrabassisten Omar Rodriguez Calvo. Zusammen haben sie eine Vielzahl von Auszeichnungen eingeheimst, den Jazz-Echo sogar gleich dreimal.
Vladyslav Sendecki, der am Krakauer Frédéric-Chopin-Konservatorium zum klassischen Konzertpianisten ausgebildet wurde, infizierte sich noch zu Zeiten des Eisernen Vorhangs mit dem Jazz, verließ aber 1981 seine polnische Heimat. Seitdem kreuzten sich seine Wege mit dem Who-is-Who des Jazz: Klaus Doldingers Passport, Peter Herbolzheimer, die Gebrüder Brecker, Billy Cobham, Jaco Pastorius, Bobby McFerrin … die Liste ist lang. Dabei hat er auch Duo-Erfahrungen mit Schlagzeugern gesammelt, etwa im Zusammenspiel mit Jeff Ballard, der sonst im Trio des Pianisten Brad Mehldau die Stöcke schwingt. Genau wie Spiegel hat Sendecki seine Zelte seit Langem in der Freien und Hansestadt Hamburg aufgeschlagen: Hier war er erst bei Universal unter Vertrag; seit 1996 ist er Stammspieler der NDR Big Band.
Dass die beiden sich einmal finden würden, ist also fast schon zwangsläufig, dass den beiden im Zusammenspiel aber ein derart dichtes, fast orchestrales Gesamtklangbild gelingt, ist ein echter Glücksfall − oder eben ein kongeniales Zusammenwirken von klugem Songwriting, virtuosem Spiel und vor allem einem Händchen für Sound und Recording. Und so vermisst man beim Hören der CD auch an keiner Stelle den Bass.
Meanwhile In Heaven ist der erste Song der neuen CD, von Jürgen Spiegel geschrieben und von Vladyslav Sendecki mit weiterführenden Voicings versehen. Die Tonart ist Gb-Dur, der Titel gliedert sich in zwei Parts: Das A-Thema wird von den vier Akkorden Gb − Ebm − Db und Cb geprägt, im B-Abschnitt entfällt der Gb-Dur-Akkord, und der Part beginnt mit der Moll-Parallele Eb-Moll. Diese beiden Vamps kommen in vielen Popsongs vor − erst die Optionen wie Major7, m9 oder Dur6/9 bringen die Klänge zum Leuchten. Diese »Ergänzungstöne« sind keine Leihgaben aus dem Jazz, sondern sie entstehen automatisch, wenn ein Quarten-Akkord − wie hier Ab-Db-Gb − über unterschiedliche Basstöne gelegt wird. Die Umdeutung dieses »Akkord-Orgelpunktes« entfaltet eine leicht mystische, entrückte Atmosphäre. Das Thema hat einen signifikanten Riff-Charakter, eine durchkomponierte Melodie ist hingegen nicht vorhanden.
Mit dieser recht einfachen Vorgabe könnten die beiden Protagonisten Gefahr laufen, recht schnell das Ideenpolster aufzubrauchen. Da es sich aber um zwei gestandene Ausnahmekönner handelt, »unterhalten« sich beide 6 Minuten lang über die beiden Parts und zelebrieren eine einfühlsame Reise durch eine schöne Klanglandschaft. Mit einem musikalischen Schlagzeuger wie Jürgen Spiegel, der dezent die Eckpunkte setzt und die Klangtiefe seines Sets auslotet, kann ein Pianist den Song viel offener gestalten und z. B. einen Akkord liegen lassen, während die Trommeln die rhythmische Struktur skizzieren. Und die Kunst, das langsame Tempo auszuhalten, die Pausen zu fühlen und Lücken zuzulassen, will auch gelernt sein. In der »Deep-Ballad« Meanwhile In Heaven geht es um dynamische Entwicklungen, um Spannung und Entspannung mithilfe von interessanten Voicings und orchestraler Perkussion, wobei der Fokus stets auf dem Gesamtklang liegt.
Das Klavier startet zurückhaltend mit wenigen Tönen und klaren Melodieriffs; die linke Hand legt ein Quinten-Fundament. Im A2-Teil sorgen vier zusätzliche Takte für einen Ausklang bzw. eine Zäsur − hier lässt Sendecki ein schönes Arpeggio perlen. In den A-Parts 3 und 4 verdichtet sich die Melodie zunächst, um dann im B1-Part vollen Akkorden das Feld zu überlassen. Im B2-Part taucht ein neues Element mit Akkordbrechungen in der linken Hand auf − auch hier beschließen vier Ausklangtakte den Abschnitt mit versetzten Oktavbrechungen. Der A5-Part startet dynamisch wieder vom piano und gibt so Raum für die beginnende Steigerung. Interessant ist, dass nun auch die linke Hand Melodien und melodische Übergänge einstreut. Ab A7 wird die linke Hand rhythmisch fordernder und spielt Pattern-orientiert; dadurch wird die rechte Hand harmonisch entlastet und kann vollgriffig mit Oktaven oder Dreiklängen mehr Klangvolumen beisteuern. Das Ganze steigert und schaukelt sich auf; ab B3 kommen die tiefen Bass-Lagen zur Geltung: Satte, tieftönende Bässe durchfluten den Flügel und reizen das Klangpotenzials des Instrumentes aus. Mit den obligatorischen vier Ausklangtakten endet der fulminante Ausflug in die orchestralen Klanggefilde, und das Thema fängt wieder von vorne an.
Abschließend zwei technische Anmerkungen zur Transkription: Die Verteilung der Töne auf die beiden Hände ist nicht immer zweifelsfrei geschehen und sollte ggf. individuell nachjustiert werden. Nach der D.C.-Anweisung werden im Prinzip die Abschnitte A1, 2, 3 und 4 gespielt, diese werden jedoch nicht streng wiederholt, sondern variiert; nach dem Kopf geht es dann zum Outro.
Hier kannst du dir die Schlagzeugspur als MP3 herunterladen, um dazu zu spielen.
In Zusammenarbeit mit unserer Schwesterzeitschrift STICKS bieten wir als Leckerbissen einen besonderen Service: Wir haben dankenswerter Weise von Jürgen Spiegel die originalen Drums-Aufnahmen erhalten, sodass unsere Leser die Transkription spielen und zugleich in die Atmo der originalen CD-Einspielung eintauchen können. In STICKS finden sich auch weitere Details zur Aufnahmetechnik des Songs. Den Download gibt’s hier.