Die PPG-Story
Ohne PPG-Synthesizer hätten sich die 80er Jahre anders angehört. Nur wenige Instrumente können eine ähnliche Charthit-Präsenz verbuchen wie Wolfgang Palms charakteristisch blauen Wave-Synthesizer. Obwohl ihr klanglicher Fingerabdruck unzähligen Hits aufgeprägt ist, haftet ihnen eine fast mythische Aura an: Für den Normalmusiker stets unerschwinglich geblieben, sind diese Instrumente heute Kultobjekt und Sammlertraum. Ebenso Mythen fördernd ist die Tatsache, dass Wolfgang Palm zweifellos zu den innovativsten und visionärsten Synthesizer-Entwicklern überhaupt zählt. Einige seiner Konzepte waren ihrer Zeit um Jahre voraus – ein Umstand, der gleichzeitig Segen und Fluch für die Hamburger Firma bedeutete. Wir werfen einen Blick auf sämtliche Instrumente, die im Laufe von gerade einmal einem guten Jahrzehnt unter dem PPG-Label entstanden sind.
>> 3 Fragen an Wolfgang Palm – dem PPG-Synthesizer-Visionär <<
1974: „Der Kleine“
Wolfgang Palms erster vollständiger Synthesizer: 2 VCOs, Mixer, VCF, VCA, Hüllkurve. Eines der drei handgefertigten Exemplare geht an Lutz Rahn von der Band Novalis.
1974: PPG „Kompaktsynthesizer“
Erstes Kleinseriengerät, am Minimoog angelehnt. Schon hier ist Wolfgangs Faible für kuriose und praktische Detaillösungen erkennbar: Patchkabel werden aus dem Gerät herausgezogen und verschwinden über eine Aufrollmechanik im Gehäuse-Inneren („Springcords“). Außerdem verfügt das Gerät über ein beleuchtetes Bedienfeld. Preis: 2.900 Mark; User: Die Hamburger New-Wave-Koryphäe Matthias Schuster, wahrscheinlich Edgar Froese und Chris Franke.
1975: PPG 1002
Effizienter gestaltete Weiterentwicklung mit einigen Detailverbesserungen und Schaltern anstelle von Springcords. Verkaufspreis: 3.000 Mark. Interessante Details wie mischbare Wellenformen. Etwa 100 Abnehmer, nach wie vor meist aus der Hamburger Musikszene. Darunter auch Matthias Schuster, der ihn bei der Produktion von Andreas Doraus Hit Fred vom Jupiter verwendete.
1975: Modularsystem 100
Erstes PPG-Modularsystem. Deutliche Parallelen zum Moog. Erkennbar an der teilweise eigentümlichen deutschsprachigen Beschriftung. Die Schaltungen entsprechen weitgehend denen im 1002, der Grundsound ist demnach sehr ähnlich. Zu den Abnehmern zählt Keyboarder Peter Seiler (Tritonus) und Toto Blanke. Zu hören im Stück PPG auf dessen Album Electronic Circus von 1976. Verfügbare Module: Oszillator + Oszillatortreiber, Tiefpassfilter, Verstärker, Vormischfeld (Vierfach-Mixer mit Multiple), Ausgangsfeld (2-Band-EQ), Hüllkurvengenerator (ADSR-Prinzip), Signalgeber, Sequenzen-Steuerer (8-Step-Sequenzer) mit Sequenzen-Schalter und Steuer-Oszillator.
1976: Modularsystem 300
Das System 300 ebnet PPGs Weg über Hamburgs Grenzen hinaus: Heinz Funk, seinerzeit deutscher Moog-Vertrieb mit Kontakten zu Rundfunk, Theatern und Filmstudios, sorgt für Abnahme mehrerer Systeme. Zudem stellt er den Kontakt zu Peter Baumann (Tangerine Dream) her. Dessen visionäre Ideen dienen als Anreiz für neue Konzepte, erstmals in Form von digital gescannten, polyfonen Tastaturen verwirklicht. Die Module sind kompakter, dabei funktionaler und mit verbesserter Kompatibilität zum Moog-System. Auch Klaus Schulze und Jean Michel Jarre nutzen ein System 300 (live 1979). Insgesamt existierten vermutlich um die 30 Modular-PPGs in mehrere Gehäuse- und Koffervarianten.
Modulauswahl: VCO (mit Sync, PWM, vier Wellenformen), Control Panel (mit 24 Schaltern als „speicherbare“ Alternative zu Patchkabeln), Modifier (Tiefpassfilter-/VCA-Kombination), Noise/ LFO, Dual Envelope Generator, Signal Mixer (Audio und Steuerspannungen), Random Voltage Generator (Noise und S&H), Sequenzer (acht Steps mit wählbarer Notenlänge), Dual Analog Multiplier (Ringmodulator), Frequencyfollower (Pitch-/Envelope to Voltage, Trigger-Erzeugung), VCF (Multimode-Filter), Duophonic/Quadrophonic Digital Keyboard (zwei bzw. vier CVs und Trigger mit Hold-Funktion), Multicontrol Keyboard (mit Controllern für Pitch, Portamento, Vibrato sowie acht Wippschaltern zum „Benden“ bestimmter Intervalle).
1976: PPG 1020
Erster subtraktiver Synthesizer mit digitalen Oszillatoren (digital erzeugte Standardwellen mit 64 Stufen), äußerst stimmstabil, quantisierte Modulationen in exakt bestimmbaren Intervallen möglich. Übrige Ausstattung weitgehend vom 1002 übernommen, weitere Detailverbesserungen. Preis: 2.900 Mark. User u. a. vermutlich Klaus Schulze (Chrystal Lake), Edgar Froese.
1976: PPG 1003 Sonic Carrier
Erster vollständig speicherbarer Synthesizer! Analoge VCOs (am System 300 angelehnt) mit digitaler Kontrolle, 50 Presets für alle Klangparameter. Parameter aus heutiger Sicht gering aufgelöst (z. T. nur acht Stufen). Das aufwendige und offenbar nicht immer zuverlässige Gerät zählt heute zu den Sammlerstücken erster Güte (höchstens 15 Exemplare). Eine Version ohne Keyboard ließ sich im PPG-300-Gehäuse oder im Moog-System unterbringen und wurde von Klaus Schulze, Edgar Froese und Armin Stöwe gespielt.
1977: PPG 350 Computer Sequencer
Zeitgleich mit Rolands MC-8 erster Sequenzer auf Mikroprozessorbasis (Motorola 6800). Speicherung von 256 Tönen in 16 Patterns, rudimentärer SongModus, Arpeggiator, Transpositions- und Quantisierungsfunktion, Remote-Keyboard. Step- oder Realtime-Einspielung über Keyboard – 1977 geradezu bahnbrechend! Etwa 20 Exemplare. Edgar Froese verwendete ihn auf Stuntman, Klaus Schulze auf Mindphaser, Rolf Trostel auf seinen Alben Inselmusik, Two Faces und Der Prophet.
1979: PPG 360/360A Wavecomputer
Einführung der Wavetable Klangerzeugung. Ursprünglich als preiswertere Alternative zur Analogtechnik gedacht. Zwei Sounds gleichzeitig auf acht Stimmen verteilbar. Jede Stimme kann unterschiedlich gestimmt werden. 8-Bit-D/A-Wandlung, kein Filter, daher bisweilen besonders harscher und körniger Sound. Die hier verwendeten Wavetables kommen in allen späteren Waves zum Einsatz. 100 Speicherplätze, Anschluss-Port für 350-Sequenzer. Nachfolger 360A identisch, aber mit leicht überarbeiteter Bedienoberfläche. Insgesamt ca. 40 Geräte mit minimal veränderten Ausstattungsdetails (z. B. CV/Gate-Ins [360], Einzel-Outs, Mastertune- und Volume-Regler). Die letzten fünf 360A besitzen flacheres Gehäuse mit weißem Bedienfeld. Neupreis knapp 10.000 Mark. User u. a. Lutz Rahn / Novalis, Armin Stöwe, Flying Lizards. Anspieltip: Edgar Froeses Album Stuntman.
1980: PPG 340/380 System
Das Entwicklungssystem des 360 bot Möglichkeiten, die beim Serienmodell ungenutzt blieben, von einigen Künstlern jedoch als hochinteressant eingestuft wurden. So entstand parallel zum 360 der sogenannte „Kühlschrank“: drei Rack-Module sowie Keyboard und Computerterminal für die Bedienung. Beinhaltet 360er-Klangerzeugung, verteilt auf zwei Module (340A „Generator Unit“ mit Voice-Boards und Wavetable-Speicher sowie 340B „Processor Unit“ mit Steuer-CPU und Peripherie), dazu der „Event Generator“ 380 (16-Spur-Sequenzer, pro Step Zugriff auf Timing, Dynamik, Tonhöhe und Soundauswahl).
Betriebssystem und Wavetables des 340 sind nicht fest ins ROM gebrannt, sondern via Micro-Cassette austauschbar – somit zugleich Urahn des Waveterms. Neben Armin Stöwe (u. a. live mit seiner Band AIR) arbeiteten Edgar Froese und Thomas Dolby (The Golden Age Of Wireless) mit dem System. Froese steuerte zudem die TD-Lightshow mit dem 380-Sequenzer, Dolby triggerte Simmons-Drums. Sein „Henry“ getauftes Gerät fand sein Ende in einem Fahrstuhlschacht. Es existierten eine Handvoll Systeme, heute im Besitz von Sammlern, teilweise restauriert und technisch erweitert.
1980: PPG 390 Drum Unit / Sound Store Unit
Rompler-Vorläufer: Als Ergänzung zum 340/380-System experimentierte Wolfgang kurzzeitig mit EPROM-(Drum-)Samples, empfand das Konzept jedoch als zu unflexibel. Nur zwei Prototypen existieren. Zu hören auf Serge Blenners Album Fracture Interne.
1981: Wave 2
Zur Musikmesse 1981 zeigt PPG den Wave 2. Weiterentwicklung des 360A mit SSM2044-Analogfilter und dritter Hüllkurve, komplett überarbeitetem Bedienkonzept und optionalem 8-Spur- Sequenzer. Preis: 10.050 Mark, mit Sequenzer 12.070 Mark. Für den Sequenzer war die externe Syncbox DRS2 erhältlich und läutete PPGs internationalen Durchbruch ein. Für viele PPG-Fans heute dank Kombination aus 8-Bit-Klangästhetik und Analogfilter das interessanteste PPG-Modell. User: Saga (Worlds Apart), Tears for Fears, Grobschnitt, Chris de Burgh (The Getaway), Depeche Mode (A Broken Frame), Nena-Keyboarder Uwe Fahrenkrog (z. B. Haus der drei Sonnen), Klaus Schulze (Audentity), Klaus Doldinger (Constellation), Anne Dudley, Jasper van’t Hof u.v.m. Auch Tangerine Dreams 1981er-Album Exit repräsentiert den Wave 2 hervorragend.
1982: Wave 2.2
Weiterentwicklung des Wave 2 mit 12-Bit-Wandlern, zwei Oszillatoren pro Stimme. Komplett neu gestrickte, effizientere Hardware, Keyboard-Split. Bis 1984 vier Updates, darunter Waveterm-Port und MIDI (in Vers. 6). Großer Erfolg trotz 14.000 Mark Verkaufspreis. Profikeyboarder in aller Welt verlieben sich nun endgültig in den PPG-Sound.
1982/83: Waveterm A
PPGs Antwort auf Fairlight und Emulator: Auf Basis eines Eltec „Eurocom II“ Industrie-PC-Mainboards mit 6809-Prozessor entsteht in Rekordzeit das Waveterm A. Es erlaubt Erstellen und Archivieren von Waves, Wavetables und Sequenzen sowie 8-BitSampling und Wiedergabe mit analoger Nachbearbeitung über den Wave 2.2. Preis: ca. 16.000 Mark.
1984: Wave 2.3
Finale und erfolgreichste Version des Wave-Synthesizers: achtfach multitimbral, On-board-achtfach-Multisamples von Piano und Saxofon, MIDI. Zusammen mit Oberheim OB-8 typisches Standard-Setup vieler Profi-Keyboarder der 80er – von A-ha bis Yes.
1985: Waveterm B
Den 12- bzw. 16-Bit-Samplern von EMU und Fairlight wird Paroli geboten: Zur Musikmesse 1985 erscheint das Waveterm B mit 16-Bit-A/D-Wandlung (12-Bit-Wiedergabe über Wave 2.3), achtfach Multi-Sampling, deutlich vergrößertem Sample-RAM und 5 1/4″-Disketten. Abwärtskompatibel, lässt sich mit entsprechendem Betriebssystem auch als A-Version betreiben. Die bestehende PPG-Sample-Library wird mit professionell aufgenommenen 16-Bit-Sounds erweitert. Zahlreiche Library-Klänge (z. B. Messias-Sample) wurden zu Klassikern und sind Teil berühmter Hit-Produktionen.
1984/85: The System
Waveterm und Wave-Synthesizer werden um ein dynamisch spielbares 72-TastenKeyboard (PRK; ab 1985: PRK-FD mit Diskettenlaufwerk) und EVU (Expansion Voice Unit) ergänzt. Letzteres ist eine Wave-2.3-Klangerzeugung ohne Bedienelemente. Beide Geräte erweitern das System zu einem für die damalige Zeit erstaunlich vollständigen Produktionssystem. Mit etwa 50.000 Mark nur halb so teuer wie ein Fairlight IIX. Zahlreiche Hits, darunter Two Tribes von FGTH, Robert Palmers You Are In My System und viele Songs von Spliff und Propaganda entstehen mit diesem System. Stevie Wonder arbeitet zeitweise mit Wave 2.3 und vier Waveterms. Insgesamt werden etwa 1.000 Wave-Synthesizer und 300 Waveterms in knapp fünf Jahren gebaut.
1986: HDU (Hard Disk Unit)
16-Bit-Harddisk-Recording-System auf Basis von zwei TMS 32010-DSPs, gesteuert von Motorola 68000-Prozessor. Aufzeichnung von zehn Spuren mit 12 Minuten Gesamtdauer auf 85-MB-Festplatte (24 min mit zusätzlicher Harddisk). Schnitt-, Bounce- und Copy-Funktionen. 96 dB Dynamik, Frequenzgang 0 – 20 kHz. Zwei parallele Effekte bei Wiedergabe (Echo, Flanging, Phasing, Pitch-Shifting, Time-Stretching und Simulation verschiedener Verstärkerkennlinien – z. B. Röhrensimulation!). Zeigt einmal mehr Wolfgangs visionäre Konzeptionen. Das gut 30.000 Mark teure Gerät wird u. a. von Stevie Wonder (Characters) und Glenn Frey (The Heat Is On) verwendet, kann sich jedoch kaum in den Studios durchsetzen.
1986: Realizer
Visionärstes und gleichzeitig letztes, unvollendetes Projekt: integriertes Klangerzeugungs- und Recording-System. Generiert beliebige Synthesealgorithmen und dient gleichzeitig als Harddisk-Recorder und Schnittplatz. Technisch eng mit der HDU verwandt, nutzt das System acht DSPs. Zur Musikmesse 1986 sind Minimoog-Simulation, FM- und Wavetable-Synthesizer sowie Sampler (4 MB RAM) geplant. Besteht aus „Sound-Module“ (19″-Rack mit Prozessor und Laufwerk) sowie „Control Desk“ (mit 14″-Farbmonitor, Potis und Grafik-Tablet – sollte bis zu acht Sound-Modules oder HDUs parallel steuern). Verkaufspreis: 77.400 Mark. Nimmt Konzept des virtuell-analogen Synthis und dessen Einbindung in ein HD-Aufnahmesystem um fast zwei Jahrzehnte vorweg! Nicht verwunderlich, dass 1986 die Zeit für ein solches Projekt noch nicht reif war und vom Realizer nur zwei, nicht voll funktionsfähige Prototypen entstanden. Einer befand sich zweitweise bei Steinberg als Ausstellungsstück, ging aber bei deren Übernahme durch Yamaha höchstwahrscheinlich verloren, über den Verbleib des zweiten ist nichts bekannt.
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