Analog vs. Digital
Ein analoger Synthesizer ist mehr als die Summe seiner Einzelteile, da sind sich Technik-Experten und Elektronik-Musiker einig. Die Dinger haben ein Eigenleben, und kein Exemplar klingt wie das andere. Das steht im klaren Widerspruch zur digitalen Welt, wo jeder Prozess mit kühler Präzision berechnet wird. Transistoren, Widerstände, Kondensatoren − ganze Schaltungsdesigns werden im DSP in Echtzeit nachmodelliert …
Rauschen, wohlig analoges Knistern von Vinyl-Schallplatten − man hat es schon in frühen Zeiten der Digitalisierung der Audiowelt als probates Mittel entdeckt, steril klingenden Aufnahmen etwas Greifbares zu geben. Ein seltsamer Anachronismus ist es dann, wenn das Plattenknistern als Klangbestandteil dem digital produzierten Track zugeführt wurde, um diesen anschließend auf Vinyl zu pressen. Willkommen in der virtuell-analogen Welt!
Analog = warm, digital = kühl? Die Überführung analoger Klangerzeugung ins digitale Zeitalter treibt ganz ähnliche Blüten, denn das nicht Perfekte muss man den künstlichen Schaltkreisen in der digitalen Domäne erst beibringen. Das gelingt bisweilen sehr gut, dennoch können die virtuell-analogen Instrumente dem Direktvergleich mit etwa einem Moog SUB 37 nicht standhalten. Diese Power und Plastizität einer einzigen monofonen Stimme − das ist ohne Zweifel eine Spezialität der analogen Welt.
Es wäre dennoch töricht, die digitalen Analogen zu verschmähen. Man muss hier differenzieren, denn ein moderner virtuell-analoger Synth besitzt ein völlig anderes Leistungsspektrum, auch wenn die Struktur der Klangerzeugungen (Subtraktive Synthese) und die Bedienung sehr ähnlich ist. Mit digitalen virtuell-analogen Synthesizern kann man Sachen machen, die mit echt-analogen entweder gar nicht gehen oder sehr kostspielig werden.
Polyfonie
Alle virtuell-analogen Synthis sind mehrstimmig ausgelegt und lassen das Spielen von Akkorden zu: Strings, Synth-Pads, Brass-Stabs, Sound-Atmos − alles das können diese Synthesizer in großer Vielfalt liefern. Daneben können sie aber auch die verschiedensten monofonen Spielarten (legato) simulieren, was für authentische Lead- und Bass-Sounds wichtig ist. Dafür übrigens gibt’s eine Spezialität obendrauf: Unisono! Damit werden alle Oszillatoren sämtlicher Stimmen monofon spielbar und so auf einen Ton zentriert. Ein bisschen Unisono-Detune, und der Synth erzeugt die fettesten Soundwände − im o. g. Vergleich erblasst dann selbst der Moog SUB 37.
Parametersteuerung
Die Möglichkeit, jeden Klangparameter aus der DAW heraus zu steuern bzw. zu automatisieren, ist ein immenser Vorteil von digitalen Systemen − bei den analogen Geräten geht so etwas gleich ins Geld, denn hier muss jeder Regler einen eigenen Digitalwandler haben. CV/Gate-Eingänge sind eine Lösung, aber die Möglichkeiten sind begrenzt, und man muss die Anschaffung eines MIDI-to-CVKonverters einplanen. Ein Klassiker ist hier das Kenton Pro Solo MkII. Für ca. 200,− Euro wandelt es MIDI-Notes und einen Controller in CV/Gate-Steuerspannungen um. So lässt sich immerhin ein Klangparameter wie die Cutoff-Frequenz des Filters aus dem Sequenzer fernsteuern.
Das Kenton Pro Solo MkII lässt sich sehr detailliert auf die unterschiedlichsten Synthesizersysteme anpassen und ist empfehlenswert ganz besonders auch für alle, die einen analogen Vintage-Synthesizer damit steuern möchten. Wer einfach nur Gate-Signale und mehrere CVs steuern möchte, sollte sich das Doepfer MCV4 anschauen. Es ist erheblich günstiger und verzichtet komplett auf Einstellmöglichkeiten.
Parameter-Morphing
Das ist ein Mega-Feature der digitalen Synthis! Die Anwendung ist so simpel wie höchst effektvoll für geniale und komplexe Soundverläufe. Für die einzelnen Parameter werden Regelbereiche definiert, die dann mit einem einzigen Sweep über das Modulationsrad für alle Parameter gleichzeitig durchgeführt werden.
Multitimbral
Digitale Synthesizer sind meistens multitimbral ausgelegt, d. h., sie können zur gleichen Zeit mehrere unterschiedliche Sounds gleichzeitig erzeugen. So kann man ein ganzes Arrangement von Synthesizer-Sounds aus nur einem Gerät zaubern. Mit einem einzigen monofonen Synthesizer wird das kaum gelingen − hier darf man Spur für Spur die einzelnen Sounds in den Sequenzer performen.
Klangeigenschaften
Es gibt noch andere Vorteile wie Stimmstabilität oder einfache Reproduktion der Sounds dank Speicherbarkeit, aber wie sieht’s mit der Klangqualität aus? Die kann sich auf jeden Fall hören lassen! Haben wir es bei einem monofonen Analogsynth mit einem Spezialisten zu tun, sind virtuellanaloge Synthesizer ungleich flexibler.
Digitaler Klassiker: Nordlead
Mitte der Neunziger zeigte der schwedische Hersteller als erster überhaupt, dass man analoge Sounds aus einem DSP (Digitaler Signal Prozessor) zaubern kann. Der damals vierstimmige Synth kam im Analog-Revival der Techno- Ära gerade zur rechten Zeit auf dem Markt und wurde von Elektronik-Musikern mit Begeisterung ins Studio befördert − nicht selten gleich in mehrfacher Ausführung
Dem Nordlead 1 folgten weitere Modelle, wobei jede Generation mit mehr Leistung in puncto Polyfonie, Klangqualität und Funktionalität überzeugte. Dem grundlegenden Klangcharakter aber blieb Clavia immer treu, und damit spielt Clavia auch heute unangefochten in der ersten Liga. Der Sound des Nordlead liegt irgendwo zwischen SCI Prophet-5, Roland Jupiter-6 und Moog. Er kann präzise Attacks, nölige Leads, kreischende Sync-Sounds und fette Bässe. Er hat dabei immer einen sehr straighten und noblen Sound. Andere − z. T. oft sogar viel leistungsfähigere − Systeme wie etwa der Access Virus TI haben dagegen immer etwas Plastikmäßiges, sofern man einen guten Analogsound als Maßstab zugrunde legt.
Einfachheit und guter Sound
Dies zeichnete bereits den ersten Nordlead aus − und es zieht sich durch alle Generationen bis zum aktuellen Nordlead 4. Mal eben noch ein Arpeggio dazupacken, mit dem Pitch-Stick dem Gitarristen die Show stehlen und den Rest der Band dann mit einer samtigen Fläche durch das Eis des Bitcrushers einlullen − alles in einem kompakten, robusten Synthesizer: Genau das ist der Nordlead 4.
Selbst mit dem jüngsten Spross der Nordlead-Familie gelingt Clavia die Kombination aus erweiterten Klangmöglichkeiten und einfachster Handhabung. Denn der Nordlead A1 beschränkt sich klanglich keineswegs auf analoge Gefilde, ganz im Gegenteil: Die überaus flexible Oszillatorsektion liefert Ausgangsmaterial für eine Vielzahl digitaler Sounds mit sehr typischem, aber auch eigenständigem Charakter. Die Bandbreite ist enorm, und das Gebotene überzeugt rundum. Somit bietet der A1 klanglich viel Gutes, aber nichts wirklich Neues oder gar Außergewöhnliches.
Diese Einschätzung ist jedoch keineswegs als Manko zu verstehen, denn die Qualitäten des A1 liegen an anderer Stelle: Clavia hat es verstanden, einen klanglich hoch flexiblen Synthesizer so zu konzeptionieren, dass sich sein Soundpotenzial mit minimalem Bedienaufwand erschließt.
Wer ein kompromissloses Klanggestaltungswerkzeug sucht, wird sich sicher an anderer Stelle umschauen. Wer dagegen ein leistungsfähiges und zuverlässiges Performance-Instrument für Bühne oder Studio sucht, wird vom Nordlead A1 begeistert sein.
Best of both worlds
Virtuell-analoge Synthesizer gibt es in großer Vielfalt, und sie sind längst ein eigenes Genre, das sich trotz aktuellem Analog-Hype und der immer besser klingenden Software-Synthesizer durchaus behaupten kann. Die Mischung macht’s! Sicher auch eine Budget-Frage, aber man sollte sich Gedanken machen, welche Eigenschaften und Fähigkeiten man selber für seine Musik braucht. Und der Mix aus analog, virtuell-analog und Synth-Plugins wird einem beim Musikmachen noch mehr Möglichkeiten und (Klang-)Farbvielfalt bieten können.